Der Großvater der Katzenvideos
Von Jochen WernerLouis Wain (Benedict Cumberbatch) malt Katzen. Nichts als Katzen. Also zumindest später in seinem Leben, wenn er berühmt wird – denn am Anfang des Biopics „Die wundersame Welt des Louis Wain“ arbeitet er noch als freier Illustrator für eine Tageszeitung, wo er eben zeichnet, was ihm aufgetragen wird. Nur Menschen zeichnete er schon immer äußerst ungern, auch wenn er sich einmal dazu hinreißen lässt, innerhalb weniger Sekunden und beidhändig ein Porträt seines Herausgebers Sir William Ingram (Toby Jones) anzufertigen. Louis ist genialisch, daran besteht kein Zweifel. Zugleich ist er in sozialen Dingen maximal unbeholfen und den Anforderungen des alltäglichen Lebens, insbesondere als Versorger eines siebenköpfigen Haushalts, kaum gewachsen.
Den sechs jüngeren Schwestern, für deren Lebensunterhalt Louis als ältester Sohn einer verwaisten Familie aufzukommen hat, wären allerdings auch gefestigtere Naturen wohl nur schwerlich gewachsen. Die Dialogkaskaden, die ihm verlässlich entgegengeschleudert werden, sobald er die Schwelle des familiären Hauses überschreitet, erinnern in ihrer Intensität und Unausweichlichkeit mitunter an den ebenfalls von einer weiblichen Großfamilie gemarterten Adam Sandler in Paul Thomas Andersons „Punch-Drunk Love“ und prägen den Rhythmus von „Die wundersame Welt des Louis Wain“ maßgeblich. Das Tempo, das sie vorgeben, tut dem Film von Will Sharpe („Landscapers“) gut.
Der Malen Louis Wain (Benedict Cumberbatch) wird Ende des 19. Jahrhunderts weltberühmt – mit Katzen und nichts als Katzen…
„Die wundersame Welt des Louis Wain“ ist das Biopic eines psychisch labilen, aber in seiner Inselbegabung genialen Künstlers, der seinen eigenen Dämonen ein künstlerisches Werk abzuringen vermag. Seine Bilder sind dabei zwar überaus populär und erfolgreich, scheinen aber zumindest an der Oberfläche schlicht und vermeintlich wenig anspruchsvoll. In dieser Thematik liegen gleich eine ganze Reihe von Fallstricken bereit, über die viele Filmemacher*innen nur allzu gerne stolpern – vom klischeehaften Kitsch über den hochbegabten Autisten bis hin zur distanzlosen Verklärung populistischen Kunsthandwerks zur Großkunst. „Die wundersame Welt des Louis Wain“ versucht, diese Stereotypen zu umgehen oder zumindest zu variieren, indem er dem Schmerz seinen Raum lässt, statt der Versuchung zu erliegen, ihn zur Exzentrizität zu verklären.
Natürlich lässt der Film seinem ungemein populären Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch ausreichend Gelegenheit, seine charakteristischen (und mitunter auch etwas zu maschenhaften und großschauspielerischen) Tics und Macken vorzuführen. Aber er lässt zugleich auch niemals einen Zweifel daran, dass sein Louis Wain ein unauslässlich von Leid getriebener Mensch ist, gleichgültig, ob er dies mit spürbarer Gewaltanstrengung tief in sich begräbt oder ob sich der Schmerz schlussendlich ein Ventil sucht und offen zum Ausdruck kommt.
Die erste Hälfte des Films ist eine Liebesgeschichte und zeigt die vorsichtige Annäherung zweier beschädigter Individuen, die ein kurzes Glück miteinander finden – tatsächlich in einer im viktorianischen England gesellschaftlich äußerst ungewöhnlichen Form, ehelicht Wain doch mit Emily (Claire Foy) die deutlich ältere Gouvernante seiner jüngeren Schwestern. Bald schon erkrankt Emily jedoch unheilbar und Louis überträgt all seine Liebe auf den gemeinsam aufgezogenen Kater Peter, der schließlich auch seine berufliche Erfolgsgeschichte einleitet. Denn von nun an zeichnet Louis Wain Katzen, in allerlei menschlichen Posen und Positionen – und sein felines Universum wird zum Spiegel- bis Zerrbild seines durchaus idiosynkratischen Blickes auf die menschliche Gesellschaft.
Dieser Blick ist unter anderem von einer Verschwörungstheorie über die Rolle der Elektrizität als einer unsichtbar hinter allen Dingen wirkenden Urkraft geprägt – es ist eine semiwissenschaftliche Theorie, wie sie für das späte 19. Jahrhundert gar nicht so ungewöhnlich gewesen sein mag, die aber auch das allmähliche Abdriften Wains in eine Sphäre vorzeichnet, in die ihm irgendwann niemand mehr folgen kann. Denn der historische Louis Wain verbrachte, nachdem eine sich immer wieder in Gewaltausbrüchen manifestierende Schizophrenie diagnostiziert wurde, seine letzten anderthalb Lebensjahrzehnte in diversen psychiatrischen Kliniken. Posthum wurde durch verschiedene Psychiater die These formuliert, dass sich bereits in seinen mit fortschreitendem Alter und Krankheitsverlauf immer psychedelischeren Katzenbildern Anzeichen seines Krankheitsbildes erkennen ließen.
Emily (Claire Foy) ist die große Liebe seines Lebens – bis Louis nach ihrem Tod all seine Gefühle auf den gemeinsamen Kater Peter überträgt.
Die Rolle, die diese Katzenbilder für die Deutung der Person Louis Wain in Will Sharpes Film spielen, lässt sich vielleicht am klarsten aus der wohl schönsten und schmerzvollsten Szene herauslesen: Während Sharpe den Tod von Emily nach langem Krebsleiden sehr zurückgenommen, fast schon nebenbei erzählt, sehen wir Louis später im Film einmal zusammenbrechen und all seinen Schmerz herausweinen und -schreien. Diesen Moment zeigt Sharpe nach dem Tod des Katers Peter, auf den Wain all seine Liebe für Emily überträgt und dessen Verlust ihn nun endgültig ins Nichts stürzt.
So ähnlich betrachtet der Film auch die Kunst von Louis Wain, nämlich nicht als ästhetisch ungemein wertvolle Meisterwerke, aber als einem tragischen, leidvollen Leben abgerungene Selbstentäußerungen eines gemarterten Individuums. In seinen besten Augenblicken erzählt „Die wundersame Welt des Louis Wain“ die Geschichte dieses Schmerzes auf berührende Weise und in originellen Bildwelten – und allein dafür ist er unbedingt sehenswert.
Fazit: Ein visuell originelles und die schlimmsten Klischees vermeidendes Biopic über den schizophrenen Katzenmaler Louis Wain – in seinen schönsten Momenten ist „Die wundersame Welt des Louis Wain“ das bewegende Porträt eines leidvollen Lebens und dessen Verwandlung in ein idiosynkratisches künstlerisches Werk.