Fake News und Trollfabriken zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Von Christoph PetersenIn „Verlorene Illusionen“, seiner Verfilmung des dreibändigen Romanepos „Verlorene Illusionen“ von Honoré de Balzac, erzählt Xavier Giannoli („Madame Marguerite“) zunächst von einem jungen Dichter, der in der französischen Provinz zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seiner naiven Poesie das Herz seiner adeligen Gönnerin zu erobern versucht. Bei Kostümen und Ausstattung wird sichtlich größtmöglicher Aufwand betrieben – und der makellose Hochglanzlook lässt den Historienfilm wie jede zweite Prestigeproduktion des Genres aussehen. Man stellt sich innerlich also bereits auf knapp zweieinhalb Stunden erlesene Langeweile ein …
… als der Film nach etwa einer halben Stunde seinen eigentlichen Kern erreicht: „Verlorene Illusionen“ handelt nun von rasend schnell an Einfluss gewinnenden Influencern in Goldgräberstimmung und von mächtigen Trollfabriken, die mit ihren Propagandataktiken das Schicksal ganzer Gesellschaften und Nationen mitbestimmen können. „Verlorene Illusionen“ wirkt dann nicht nur hochaktuell – sondern entwickelt als historische Variante von Martin Scorseses Fragwürdiger-Reichtum-Extravaganz „The Wolf Of Wall Street“ einen erstaunlichen Sog. Die allzu klassische Inszenierung hält den Film aber auch in diesen Momenten zurück.
Was wie eine historische Sommerromanze beginnt ...
Nachdem er seiner verheirateten Gönnerin Louise (Cécile de France) allzu öffentlich Avancen gemacht hat, muss der naive Nachwuchsschriftsteller Lucien (Benjamin Voisin) nach Paris fliehen. Hier erhält er zwar von dem Verleger Dauriat (Gérard Depardieu), einem früheren Obsthändler, der selbst weder Schreiben noch Lesen kann, eine harsche Abfuhr. Aber dafür nimmt ihn der Boulevardjournalist Etienne Lousteau (Vincent Lacoste) unter seine Fittiche.
Lucien erarbeitet sich vor allem mit seinen gehässigen Verrissen von Romanen und skandalösen Portraits berühmter Persönlichkeiten eine treue Leserschaft. Er wird zu jeder Feier selbst in der gehobenen Gesellschaft eingeladen – allein schon deshalb, weil selbst die Reichen und Einflussreichen plötzlich Angst vor ihm und seiner spitzen Feder haben. Lucien verfügt mit seiner Reichweite über eine ungemeine (Meinungs-)Macht – aber seine Artikel bringen ihm im selben Moment auch eine Menge Feinde in hohen Positionen ein…
Die Klatschblätter schossen in dem unregulierten Markt in der Zeit nach der Französischen Revolution wie Pilze aus dem Boden – und erreichten nach der Erfindung vereinfachter Drucktechniken innerhalb kürzester Zeit unfassbare Auflagen. Das allerdings weniger mit mühevoller Recherche – sondern mit dem Verbreiten möglichst skandalöser Gerüchte und Verleumdungen.
Ihr Geld verdienten die Redakteure, indem sie sich für Artikel fürstlich bezahlen ließen – nur eben nicht von ihrer Zeitung, sondern von Buchverlegern, Theaterveranstaltern oder Politikern. Romane und Stücke wurden gnadenlos verrissen oder über den grünen Klee gelobt, je nachdem, was dem Meistbietenden gerade in den Kram passte. Alle wussten Bescheid – und doch spielten sie alle mit, um nicht selbst unter die Räder der alles zermahlenden, ständig Rachekampagnen fahrenden Boulevardpresse zu geraten. Oder wie der Axel-Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner 200 Jahre später feststellte: Wer mit der Bild-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.
... ist ein brandaktuelles Drama über einen auf Händen getragenen Influencer-Star.
Obwohl er sich in seiner Kunst zunächst noch so aufrichtig und standhaft zeigt, kann Lucien dem immer rasanteren Strudel aus Macht und Geld, Alkohol und Haschisch, Liebe und Rache so gut wie nichts entgegensetzen – und auch das Publikum wird von dem ebenso unmoralischen wie einträglichen Treiben in den Redaktionen, Bars und Theatern fast zwangsläufig mitgerissen. Eine faszinierend abgründige, aber eben auch berauschende Erfahrung, die Xavier Giannoli zwar nicht unbedingt mit inszenatorischer Finesse, aber doch zumindest mit einem spürbaren Anziehen des Erzähltempos zusätzlich befeuert.
Natürlich kommt irgendwann der tragische Crash – dieser Genre-Regel konnte sich schließlich selbst Scorsese nie entziehen. Aber bis dahin gibt es in „Verlorene Illusionen“ noch etliche Details, die sich erschreckend einfach auf heutige Erscheinungen übertragen lassen. Zum Beispiel den Vorläufer der modernen, die Meinungsbildung in den sozialen Medien maßgeblich beeinflussenden Trollfabriken. So befehligt der seine Dienste an den Höchstbietenden verkaufende Singali (Jean-François Stévenin) etwa eine ganze Gruppe von Theatergänger*innen, mit denen er regelmäßig das Applaudieren, Buhen und Tomatenwerfen trainiert – so kann er jedes neue Stück entweder zum Hit oder zum Flop machen, völlig unabhängig davon, was auf der Bühne wirklich geschieht…
Fazit: Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man feststellt, dass ganz und gar heutig wirkende Entwicklungen und Probleme in Wahrheit früher schon (fast) genauso existiert haben. Nur schade, dass Xavier Giannoli seiner thematisch hochaktuellen Balzac-Verfilmung das Korsett eines durch und durch klassizistischen Historienfilms angelegt hat. „Verlorene Illusionen“ ist trotzdem ziemlich kurzweilig und auf jeden Fall sehenswert – aber mit etwas mehr inszenatorischem Mut wäre da eben noch mehr drin gewesen.
Wir haben „Verlorene Illusionen“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.