Fast so gut wie Sex
Von Christoph PetersenMan möchte die Leistung von Regisseur Ryan White, der zuvor auch schon mit der HBO-Dokumentation „The Case Against 8“ für einiges Aufsehen gesorgt hat, auf keinen Fall schmälern. Aber es gibt nun mal Persönlichkeiten, die sind derart einnehmend und die haben ein derart aufregendes wie abwechslungsreiches Leben geführt, dass man sich bei einer Doku über sie schon sehr doof anstellen müsste, damit am Ende kein sehenswerter Film dabei herausspringt. Die legendäre Sextherapeutin Dr. Ruth ist der Inbegriff einer solchen Persönlichkeit – und Ryan White hat sich bei seiner ebenso launigen wie inspirierenden Kinodokumentation „Fragen Sie Dr. Ruth“ auch gar nicht doof angestellt.
Ein wenig erinnert die in der Nähe von Frankfurt geborene Dr. Ruth Westheimer, die als Zehnjährige auf der Flucht vor den Nazis in einem Schweizer Kinderheim landete, bevor sie später über Palästina und Paris nach New York emigrierte, an den Kinderfernsehmoderator Fred Rogers oder die Oberste Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg: drei voller ansteckendem Optimismus für die gute Sache kämpfende, jeweils auf ihre Weise unwahrscheinliche Popkultur-Ikonen. Nur ist Dr. Ruth abseits der Kameras kein introvertierter Grübler wie Fred Rogers, sondern ein nur 1,40 Meter großer Aufklärungs-Derwisch, der auch mit 90 Jahren noch immer ohne Unterlass von Termin zu Termin eilt, um die Menschen mit ihrem ebenso entwaffnenden wie empathischen Lachen über Sex aufzuklären.
Auch mit Neunzig ist der Terminkalender von Dr. Ruth noch so voll wie eh und je.
Die Entscheidung, die Kindheitserinnerungen der Titelheldin mit animierten Sequenzen zu illustrieren, ist sicherlich Geschmackssache. Zumal es oft kraftvoller ist, wenn die Protagonisten die Dinge einfach selbst erzählen. Aber die Struktur, auf der einen Seite den auch heute noch bis obenhin vollgestopften Alltag von Dr. Ruth zu zeigen, in diesen dann aber immer wieder Rückblicke in ihre bewegte Vergangenheit einzustreuen, zahlt sich voll aus:
Man sieht diese kleine alte Dame, die voller Energie Radiointerviews gibt und Vorträge hält, sich mit Alexa anfreundet, weil der Amazon-Apparat weiß, wer sie ist – und wird dann doch immer wieder im Minutentakt überrascht, was sie in ihrem unglaublichen Leben noch alles durchgemacht und erreicht hat. Dr. Ruth ist nicht nur einen, sondern oft zwei oder drei Köpfe kleiner als ihre Gegenüber – aber dann erfährt man plötzlich, dass sie in der israelischen Armee als Sniper gedient hat.
Dr. Ruth hat sich politisch bewusst nie offen positioniert – aber sie hat in ihren zahlreichen Radiosendungen und Fernsehshows schon immer eine ganz klare Haltung zu Themen wie Aids, Abtreibung und Homosexualität eingenommen. Deshalb wurde sie nach ihrem Aufstieg zum Medienstar von verschiedensten Seiten angefeindet. Aber der Film wischt das mit eins, zwei kurzen Einschüben zur Seite – und macht sich damit die Einstellung seiner Protagonistin zu eigen, die sich auf ihrer Mission auch nie beirren lässt.
Womöglich haben Ruhelosigkeit und Energie auch damit zu tun, dass die ständige Beschäftigung für Dr. Ruth auch als Schutzschirm dient, um sich mit den schmerzhaften Momenten der eigenen Historie nicht zu sehr auseinandersetzen zu müssen: „Deutsche Juden weinen nicht in der Öffentlichkeit“, sagt sie, als sie in einem Holocaust-Museum das Schicksal ihrer ermordeten Eltern nachforscht.
An diesem Schild kommt auch Ryan White in seiner Dokumentation nur selten vorbei. Aber das macht gar nichts – denn die bloße Existenz verrät einem ebenso viel über Dr. Ruth, als hätte man diesen mit aller Kraft niedergerissen. So erweist sich „Fragen Sie Dr. Ruth“ als 1-A-Gute-Laune-Doku, die trotz ihrer vermeintlichen Leichtigkeit und ihres ansteckenden Optimismus dennoch nie ambitionslos wirkt.
Zu Fred Rogers und Ruth Bader Ginsburg sind in den vergangenen Jahren jeweils erst aufsehenerregende Dokumentation („Won`t You Be My Neighbor“ & „RBG - Ein Leben für die Gerechtigkeit“) und dann kurze Zeit später hochkarätige Spielfilm-Biopics („Der wunderbare Mr. Rogers“ mit Tom Hanks & „Die Berufung“ mit Felicity Jones) erschienen. Nun müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn nach dem einschlagenden Erfolg von „Fragen Sie Dr. Ruth“ nicht ebenfalls bald eine Hollywoodversion nachfolgen würde – wobei es ganz bestimmt nicht leicht ist, eine Schauspielerin zu finden, die auch nur halb so viel Energie mitbringt wie die reale Dr. Ruth.
Fazit: Ein Dokumentarfilm, der einen zwischendrin zutiefst berührt – und den Zuschauer am Ende voller Glück und Optimismus aus dem Kinosaal entlässt.