Geisterstadt wörtlich genommen
Von Christoph PetersenNachdem ein junger Mann mit seinem Auto gegen einen Betonpfeiler gerast ist, leben noch 215 Menschen in der langsam aussterbenden Dorfschaft Irénée-les-Neiges irgendwo in der kanadischen Provinz Quebec. Im Volksmund bezeichnet man solche halbverlassenen, längst dem Untergang geweihten Orte gerne als Geisterstädte. Aber dann muss man sich eben auch nicht wundern, wenn die Geister dann tatsächlich irgendwann mal vor der Tür stehen. So geschieht es zumindest im bereits dritten Berlinale-Wettbewerbsfilm des frankokanadischen Regisseurs Denis Côté, dessen ersten beiden Anläufe „Vic & Flo haben einen Bären gesehen“ sowie „Boris Without Béatrice“ uns nicht überzeugen konnten. Aber aller guten Dinge sind bekanntlich drei: „Ghost Town Anthology“ ist ein erstaunlich zärtlicher Geisterfilm und ein atmosphärischer Abgesang auf ganze Landstriche außerhalb der großen Städte, die schon bald nahezu vollständig verwaist sein werden.
Auch wenn es niemand offen ausspricht, dass es ein Selbstmord war, stürzt der Tod des 21-jährigen Simon Dubé die ganze Ortschaft in tiefe Trauer, die sich gleichsam einem nebeligen Schleier über Irénée-les-Neiges legt. Die Bürgermeisterin Simone Smallwood (Diane Lavallée), die jeden ihrer Bürger persönlich kennt, lehnt die angebotene Hilfe von außen dennoch ab. Hier wurden die Probleme schließlich schon immer unter sich gelöst, zudem seien die Menschen anpassungsfähig genug, um mit jeder Situation klarzukommen. Während Simons zwei Jahre älterer Bruder Jimmy (Robert Naylor) und seine Mutter Gisèle (Josée Deschênes) noch damit ringen, ihren Verlust zu akzeptieren, häufen sich die Sichtungen fremder Gestalten, die meist einfach nur an einer Stelle verharren und weglaufen, wenn man ihnen zu nahe kommt...
Denis Côté hat seinen Film, der sehr lose auf Laurence Oliviers Roman „Répertoire Des Villes Disparues“ aus dem Jahr 2015 basiert, auf grobkörnigem 16mm-Material gedreht. So wirken schon die Bilder der verschneit-verlassenen Gegend selbst wie übriggebliebene Relikte aus einer unwiderruflich vergangenen Zeit. Irénée-les-Neiges erinnert mit seinen leicht, aber nicht karikaturesk verschrobenen Einwohnern an eine verschneite Version des Örtchens Twin Peaks aus der gleichnamigen Serie von David Lynch. Einen Plot im engeren Sinne gibt es eigentlich nicht, stattdessen lernen wir in kurzen Szenen die Originale der Stadt kennen. Neben der resoluten Bürgermeisterin etwa noch das ständig kabbelnde ältere Ehepaar Louise (Jocelyne Zucco) und Richard (Normand Carrière).
Die einzelnen Miniaturen sind dabei auf das Nötigste reduziert. Wenn sich die als Hilfe entsendete Psychologin als schleiertragende Muslima entpuppt, gibt es eins, zwei ungläubige Blicke beim Teebestellen im örtlichen Diner. Aber damit ist dann auch alles Nötige gesagt. Côté zieht aus dem skurrilen Charme seiner Figuren einen warmherzigen Humor, aber er macht sich nie über sie lustig, sondern begegnet jedem einzelnen mit einem größtmöglichen Maß an Empathie. Man versteht, wie schwer es ist, an diesem Ort leben zu müssen. Man begreift aber genauso, wie schwer es wäre, diesen Ort und die dort lebenden Menschen zurückzulassen.
Nach dem eröffnenden Autounfall taucht direkt eine Gruppe von Kindern auf, die ihre Gesichter hinter wirklich gruseligen Masken verbergen. Und wenn in einer Szene plötzlich ein Mann durch das Nebenzimmer marschiert, ist es auch kein Wunder, dass die Erscheinung in dem Moment Angst und Schrecken verbreitet. Aber darüber hinaus wird die Rückkehr der Toten hier mit derselben Sturheit hingenommen, mit der sich die Menschen an ihre längst schon tote, eigentlich nur noch vor sich hin rottende Stadt klammern. Als ein Offizieller der Region die Sachlage bei einem Treffen der verbliebenen 215 Einwohner knapp erläutert, beendet er seinen Vortrag mit dem wunderbar trockenen, gar nicht mal böse gemeinten Kommentar: „Wenn sie die Sache interessiert, können sie sie ja in den Medien weiterverfolgen.“ Es ist dieselbe unerhörte Beiläufigkeit, mit der gemeinhin das Aussterben solcher Städte wie Irénée-les-Neiges zur Kenntnis genommen wird.
Fazit: Wenn die Lebenden gehen, dann kommen halt die Toten zurück! Ein ebenso atmosphärisches wie berührendes Kleinststadt-Drama mit feinem Humor und Geistergestalten, die einen nicht aufgrund ihres Schreckens, sondern aufgrund ihrer Tragik bis ins Mark hinein erschüttern.
Wir haben „Ghost Town Anthology“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.