Spannend auch ohne Auftaktmord
Von Lars-Christian DanielsIn den vergangenen Wochen beklagten viele „Tatort“-Fans mal wieder die vermeintliche Abkehr von den Wurzeln der beliebtesten deutschen Krimireihe: Erst sendete die ARD vor den Feiertagen den sperrigen Schwarzwald-„Tatort: Damian“ und überforderte damit große Teile seines Publikums, ehe die Kommissare im enttäuschenden Frankfurter „Tatort: Der Turm“ und im spannenden Schweizer „Tatort: Friss oder stirb“ zwischen den Jahren noch nicht einmal den Mörder zu überführen vermochten. Am Neujahrstag spaltete der Weimarer „Tatort: Der höllische Heinz“ dann mit seiner humorvollen Grundausrichtung die Geister – und so werden es viele Zuschauer begrüßen, dass mit den altgedienten Kommissaren aus Köln nun zwei Ermittler ran dürfen, die seit jeher für bodenständige Krimis stehen und die Experimente lieber anderen überlassen. Oder etwa nicht? In Sebastian Kos „Tatort: Weiter, immer weiter“ gibt es zum Auftakt nicht einmal den obligatorischen Mord – und auch sonst ist im Film vieles anders, als es zunächst den Anschein haben mag. Aus dem 74. Fall der Kölner Kommissare hätte sogar ein echter Überraschungshit werden können – hätten die Filmemacher bei den Figuren und Dialogen doch nur nicht so dick aufgetragen.
Bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle kommt es zu einem tragischen Unglück: Als Streifenpolizist Frank Lorenz (Roeland Wiesnekker) und seine Kollegin Vera Kreykamp (Laina Schwarz) den jungen Pascal Pohl (Wolf Danny Homann) anhalten, ergreift der Drogendealer die Flucht und läuft vor eine Straßenbahn. Er ist sofort tot. Weil die Spurensicherer um Dr. Roth (Joe Bausch) in seinem Auto synthetische Drogen finden, alarmieren sie die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), den Lorenz noch von früher kennt. Er gibt zu Protokoll, dass Pohl von einem anderen Fahrzeug gejagt wurde. An dessen Heck will er das Logo einer Feinkostfirma gesehen haben, der man Kontakte zur russischen Mafia nachsagt. Als Ballauf und Schenk Geschäftsführerin Irina Nikitina (Katerina Medvedeva) und deren Sohn Nikolaj (Vladimir Burlakov) befragen, geben diese sich allerdings ebenso ahnungslos wie der einflussreiche Roman Beresow (Jevgenij Sitochin). Lorenz gibt sich damit nicht zufrieden: Er kontaktiert Mirko Pohl (Vincent Redetzki), den Bruder des Toten, und ermittelt auf eigene Faust. Dass er Ballauf und Schenk damit in ihren Zuständigkeitsbereich funkt, passt den Kommissaren natürlich gar nicht…
Wer mit der komplexen Erzähltechnik und den vielen Zeitsprüngen im einleitend erwähnten „Tatort: Damian“ überfordert war, dem machen es Jan Martin Scharf und Arne Nolting im „Tatort: Weiter, immer weiter“ deutlich leichter: Die eingespielten Drehbuchautoren, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Geschichten für beliebte TV-Formate wie „Wilsberg“ oder „Der letzte Bulle“ schrieben, arbeiten die Ereignisse streng chronologisch ab, während der gemütliche Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling) immer wieder für Entschleunigung sorgt. Von seinen Chefs wird hingegen all das, was aufgeweckte Zuschauer auch selber schlussfolgern könnten, entsprechend kommentiert oder sicherheitshalber zusammengefasst: Wenn schon mit „Tatort“-Konventionen wie dem obligatorischen Auftaktmord gebrochen wird, scheinen die Filmemacher den Zuschauer hier nicht noch zusätzlich (über-)fordern zu wollen. Mit dem erzählerischen Erfolgsrezept „Show, don’t tell“ wird im 1079. Tatort pausenlos gebrochen – wo „Damian“ dem Zuschauer hohe Aufmerksamkeit abverlangte, übernimmt der Krimi aus dem Rheinland das Denken für ihn gleich mit. Aber warum überhaupt der Vergleich zum großartigen „Tatort“ aus dem Schwarzwald?
Ganz einfach: Beide Krimis teilen eine auffällige Gemeinsamkeit, die sich erst im Schlussdrittel des Films offenbart (und die hier natürlich nicht verraten wird). Dass der Aha-Effekt im „Tatort: Weiter, immer weiter“ nicht ganz so verblüffend ausfällt, ist aber nicht nur dem Können der Filmemacher, sondern auch der Programmplanung geschuldet: Warum die ARD die inhaltlich verwandten „Tatort“-Folgen so kurz nacheinander zeigt, erscheint rätselhaft. So oder so ist die Geschichte für Genrekenner aber diesmal leichter zu durchschauen: Wenn Streifenpolizist Lorenz nach einem harten Arbeitstag am Deutzer Bahnhof heimkommt und seiner Schwester und Mitbewohnerin Mecki (Annette Paulmann) sein Herz ausschüttet, bleiben deren Ratschläge auffallend blutleer – und der starke Fokus auf ihren Bruder verstärkt den Verdacht, dass er irgendwas auf dem Kerbholz haben muss. Bei der Charakterzeichnung zu kurz kommt hingegen Lorenz‘ jüngere Kollegin Kreykamp – schließlich ist sie es, die die zerschmetterte Leiche unter der Straßenbahn entdeckt und mit den schrecklichen Bildern im Kopf weiterleben muss. Anders als Lorenz ist sie aber keine alte Bekannte von „Schenki“ – und damit offenbar nicht interessant genug.
Das Krimidrama unter Regie von Sebastian Ko, der zuletzt den soliden „Tatort: Mitgehangen“ und den überzeugenden „Tatort: Wacht am Rhein“ für den WDR inszenierte, zählt trotzdem zu den spannenderen Beiträgen aus der Domstadt – wenn man über die Plattitüden in den Dialogen hinwegsieht und außerdem damit leben kann, dass die Schlüsselszenen des Films gelegentlich in den Kitsch abdriften. Ebenfalls typisch für die Folgen aus Köln ist die Tatsache, dass der eine Kommissar einer Theorie ernsthaften Glauben schenkt, während der andere sie negiert – genau das wollen viele „Tatort“-Puristen sehen und genau das bekommen sie hier auch geliefert. Welches Spiel der psychisch labile Lorenz spielt und welche Hintergründe zu dem Unfall führten, bleibt aber lange Zeit offen, so dass auch Gelegenheitszuschauer auf ihre Kosten kommen: Statt lediglich abgegriffene Klischees im Hinblick auf die russische Mafia abzuarbeiten, nutzen die Filmemacher sie erfolgreich für eine falsche Fährte – und dass es mit dem Spitzel Fjodor (Rostyslav Bome) noch eine weitere Unbekannte in dem reizvollen Verwirrspiel um Wahrheit, Wahrnehmung und Wahrscheinlichkeiten gibt, kommt dem Unterhaltungswert dieser „Tatort“-Folge ebenfalls zugute.
Fazit: Sebastian Kos überzeugend besetzter „Tatort: Weiter, immer weiter“ ist spannende Krimikost, leidet aber unter vielen Plattitüden – und auch der Twist auf der Zielgeraden entfaltet nicht ganz die Wucht, die hier möglich gewesen wäre.