Die Netflix-Light-Version eines Thriller-Meisterwerks
Von Oliver KubeEs müssen nicht immer Verfolgungsjagden sein. Manchmal reicht auch ein Mann am Telefon, um Spannung zu erzeugen – wir erinnern uns an „Nicht auflegen!“ mit Colin Farrell, „Buried“ mit Ryan Reynolds oder „No Turning Back“ mit Tom Hardy. Der stärkste Beitrag dieses Genres bleibt allerdings der dänische Thriller „The Guilty“ von 2018. Dessen intensiver Inszenierung attestieren wir in unserer 4,5-Sterne-Kritik, „das Geschehen beinahe schmerzhaft miterlebbar zu machen“. Drei Jahre später folgt nun das Netflix-Remake von Antoine Fuqua mit „Prisoners“-Star Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle. Herausgekommen ist dabei ein ansprechend gefilmter und atmosphärisch stimmiger Kammerspiel-Thriller, der sich über weite Strecken streng an die exzellente Vorlage hält. Aufgrund einiger unnötiger Änderungen kann das „The Guilty“-Remake dem Original – speziell in Sachen Intensität – dann aber doch nicht das Wasser reichen.
Streifenpolizist Joe Baylor (Jake Gyllenhaal) ist wegen eines anstehenden Gerichtsverfahrens vorübergehend in die Notrufzentrale versetzt worden, wo er eines späten Abends einen Anruf von Emily (Riley Keough) annimmt. Die Frau wird offenbar gerade in einem Lieferwagen verschleppt. Sie muss verklausuliert mit Joe sprechen, weil ihr Ex-Ehemann/Entführer (Peter Sarsgaard) neben ihr sitzt und glaubt, sie würde mit der gemeinsamen kleinen Tochter Abby (Christiana Montoya) sprechen. Joe versucht, Emily zu beruhigen und nebenher die Hilfe der Highway Patrol zu organisieren. Aber das ist gar nicht so einfach. Schließlich ist längst nicht alles so, wie es scheint. Parallel spitzt sich auch noch die Situation in Baylors eigenem Gerichtsprozess zu…
Aus der Notrufzentrale versucht Joe Baylor zu helfen.
Damit sich die Sogwirkung von „The Guilty“ auch auf Netflix voll entwickeln kann, sollte man möglichst auch im Heimkino sicherstellen, die 90 Minuten ohne Ablenkung schauen zu können. Der Clou des Films ist schließlich, dass das Publikum die gesamte Story in Echtzeit mit dem mit seinem Telefon-Headset wie verschmolzen wirkenden Protagonisten in der Notrufzentrale verbringt. Die übrigen Figuren der Thriller-Story sehen wir nicht. Die prominenten Co-Stars wie Peter Sarsgaard, Riley Keough, Ethan Hawke oder Paul Dano sind lediglich zu hören. Der eigentliche Plot spielt sich also vor dem inneren Auge der Zuschauer*innen beziehungsweise im Gesicht von Jake Gyllenhaal ab.
Anders als im dänischen Original wird hier noch eine weitere Bedrohungsebene hinzugefügt. Gigantische Waldbrände, die in und um Los Angeles wüten, gefährden auch Wohngebiete. Der zusätzliche Kniff erweist sich allerdings nicht nur als unnötig, sondern sogar als ablenkend. Statt sich nahezu ausschließlich auf den in einem lichtarmen, spartanisch möblierten Büro sitzenden Protagonisten zu konzentrieren, dominiert immer wieder eine an der Stirnseite des Raumes aufgestellte Videowand mit TV-Übertragungen lodernder Flammen. So wird suggeriert, dass Brände irgendwann noch relevant werden. Sie sind es aber allenfalls indirekt und rauben der eigentlichen Handlung stattdessen einen Teil ihrer Dringlichkeit.
Über Asger Holm, den Protagonisten des dänischen Originals, erfährt man lange Zeit nichts. Es gibt nur ein paar vage Andeutungen, dass er im Dienst irgendwie Mist gebaut haben muss, was ihm dann den offensichtlich ungeliebten Job in der Notrufzentrale eingebrockt hat. Im Gegensatz dazu wird Joe Baylor im Remake von Anfang an stärker ausgeschmückt, etwa mit familiären Problemen zusätzlich zu den beruflichen. Es wird etwa offengelegt, dass der engagierte, seine Emotionen aber längst nicht immer im Griff habende Cop der Vater eines kleinen Mädchens ist, von dem er sich aktuell aber fernhalten muss. Obendrein scheint er unter einem gewaltigen Kater zu leiden – und auch seine Atemwegsprobleme werden durch die brandbedingte Aschewolke über der Stadt nicht gerade besser..
Das ist alles etwas zu viel. True Detective“-Erfinder Nic Pizzolatto tendiert bei seinem Skript mitunter zur Übererklärung – und das fällt natürlich gerade in einem minimalistischen Thriller sofort negativ auf. Trotzdem gelingt es „Training Day“- und „Infinite“-Regisseur Antoine Fuqua, die Spannung über weite Strecken hochzuhalten. Die von Originalregisseur Gustav Möller gemeinsam mit Emil Nygaard Albertsen erdachte Grundstory mit ihren teilweise erschütternden Twists ist einfach zu gut. Das scheint auch Pizzolatto zu wissen, weshalb er gerade den Mittelteil nahezu 1:1 übernommen hat. Das Ende weist dann aber noch einmal eine entscheidende Abweichung auf, die das Remake erneut eher schwächt als stärkt. Gerade eine noch zusätzlich eingebaute finale Wendung raubt dem Schluss seine Schlag-in-die-Magengrube-Qualität, da sie das zuvor Gesehene – äh, Gehörte – noch einmal nachträglich entschärft.
Hat mit vielen Dämonen zu kämpfen: Joe Baylor.
Trotzdem ist „The Guilty“ im Ganzen ein unterhaltsamer, intensiver Thriller geworden. Das ist nicht nur dem hohen Tempo der Handlung sowie der durch die angenehm subtile Kamera- und Schnittarbeit von Maz Makhani („The Night“) beziehungsweise Jason Ballantine („Es“) geschaffenen Atmosphäre, sondern zum großen Teil auch Jake Gyllenhaal zu verdanken. Der zeigt sich hervorragend aufgelegt, punktet mit expressivem Augenspiel und im Gegensatz dazu klug reduzierter Gestik. Wer das dänische Original noch nicht kennt, sollte sich aber trotzdem lieber das zuerst ansehen, bevor man dann zum Vergleich noch Fuquas Light-Version nachschieben kann.
Fazit: Das US-Remake bietet ein paar sicherlich gut gemeinte, aber dem Ergebnis nicht gerade zuträgliche Veränderungen gegenüber dem Original. Fans intensiver Kammerspiele dürfen hier aber dennoch ebenso gern einschalten wie Fans von Hauptdarsteller Jake Gyllenhaal.