Ein Meister ist nach 9 Jahren zurück – mit gleich 3 Filmen in einem!
Von Patrick FeyDrei Zeiten, drei Bildformate, drei Protagonist*innen, aber eine Geschichte. So in etwa stellt es sich in Lisandro Alonsos „Eureka“ dar, der mit seiner Cannes-Premiere 2023 dem in den letzten Jahren so überaus starken argentinischen Kino weiteren Auftrieb verleiht. Neben Filmemacher*innen wie Mariano Llinás („La Flor“), Lucrecia Martel („Zama“), Laura Citarellas („Trenque Lauquen“), Eduardo Williams („The Human Surge“), Matías Piñeiro („You Burn Me“) oder Rodrigo Moreno („Die Missetäter“) befindet sich Alonso an der Speerspitze einer vielschichtigen Kinoströmung, die allein in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Grenzgängern des narrativen Kinos hervorgebracht hat.
Sein neuer Film „Eureka“, der immerhin gute neun Jahre auf sich warten ließ, stellt auf paradigmatische Weise einen Pfad dieses explorativen Kinos dar. In diesem wird filmische Handlung zumeist weniger als eine Erzählung mit Beginn und Endpunkt denn als eine ergebnisoffene Beschäftigung mit den Orten verstanden, die Alonso im Rahmen eines langwierigen Prozesses erforscht. „Space, not time“ insistiert vielsagend der Großvater der jungen Sadie (Sadie Lapointe) in der mittleren der drei Episoden des Filmes. Zeit, das sei nur eine Fiktion der Menschheit. Angesichts der drei Drehbuchautoren ist es nicht überliefert, ob Lisandro Alonso als Souffleur dieser Zeilen gelten kann. Die Mühelosigkeit, in der „Eureka“ mühelos von einer Zeitebene in die nächste übergeht, legt dies allerdings durchaus nahe.
In einer Unerschrockenheit, wie sie sich vielleicht nur einem annimmt, der das Hoffen verlernt hat, sucht die Basketballtrainerin Sadie ihren Großvater mit der Bitte auf, sein Versprechen einzulösen, das er ihr einst in ihren Kindheitstagen ausgestellt hatte: sie mittels des durch rituelle Gesänge begleiteten Verzehrs eines geheimen Kräuteraufgusses von ihrer jetzigen Existenz zu entlassen und auf Bewusstseinsreise zu entsenden. Ein Zeitpunkt wie eine Sollbruchstelle weitet sich Alonsos bis zu diesem Zeitpunkt realistischer Ansatz zu einem magischen Realismus, der bis zu diesem Moment nur anhand einiger anomaler Elemente angedeutet wurde.
Wir befinden uns in South Dakotas Pine-Ridge-Reservat der indigenen First Nations. Sadie und ihre Tante Alaina (Alaina Clifford), eine Polizeibeamtin, befinden sich an der Schwelle des Lebensüberdrusses. Beide scheinen dieses Lebens müde geworden, das so vom Versuch bestimmt ist, ihrem Umfeld mit jener Fürsorge und Hoffnung zu begegnen, die sie für sich selbst kaum mehr aufbringen können.
Im Mittel- und Herzstück von „Eureka“ wirft uns Alonso in die desolaten Schneelandschaften des Reservats und begleitet die beiden auf beinah episodenhafte Weise durch die unerbittliche Nacht: Alaina, die sich während ihrer Spätschicht durch die verschneiten Landschaften schlägt, und Sadie, die auf ihrer unangekündigten Abschiedstour letzte Besuche unternimmt. Obgleich von einer durchgehenden Melancholie durchzogen, schlägt diese Episode des Filmes niemals in Miserabilismus um. Dafür ist Alonso zu sehr daran gelegen, eine wahrhafte Auseinandersetzung mit seinem Schauplatz und den ihn bewohnenden Figuren herzustellen.
Dass Sadie und Alaina etwa die Vornamen ihrer Schauspielerinnen Sadie Lapointe und Alaina Clifford tragen, kommt nicht von ungefähr. Beide gehören tatsächlich den Dakota Nations an und verhalfen dem Regisseur zu ‚echten‘ Einblicken in das Reservatsleben, das vor allem von politischer Vernachlässigung — um nicht zu sagen: Verwahrlosung — geprägt ist. Alaina Clifford, die bis zum Filmdreh tatsächlich auch als Polizistin gearbeitet hat, kann vermutlich ein Lied davon singen. Denn in Pine Ridge, wo Alonso 2017 einige Monate verbrachte, kommen trotz (oder vielleicht aufgrund) der hohen Kriminalitätsrate auf 50,000 Einwohner nur gut 20 Polizist*innen.
Wohl auch deshalb ist Alainas Figur weit mehr als nur Polizistin. Würde man sie nicht wiederholt zur Waffe greifen sehen, man könnte meinen, es handele sich um eine besonders engagierte Sozialarbeiterin. Und obgleich Clifford bisweilen lernen musste, dass das Kino, trotz aller Realismus-Ambitionen, seinen eigenen Regeln folgt (niemals etwa, gab die schauspielernde Ex-Polizistin im Rahmen eines Q&As zu Protokoll, würde sie im Einsatz mit ihrer Waffenhand eine Taschenlampe halten), so gehören die Szenen ihrer Nachtschicht zum Fesselndsten, was das Kino bezüglich der Darstellung von Polizeiarbeit in jüngsten Jahren hervorgebracht hat.
Zu einem nicht unwesentlichen Teil trägt auch ihre Funk-Kommunikation mit der Zentrale dazu bei. Auf geschickte Weise stellt diese unter Beweis, wie sich uns Zuschauer*innen fremdartige Denkweisen erschließen, wenn wir uns nur genug auf diese einlassen. 1-7-4 etwa, so lernen wir nach wiederholtem Funkkontakt mit dem Revier, steht für Sadie selbst, der wieder und wieder erklärt wird, dass ihr im Moment keine unterstützende Einheit zur Verfügung gestellt werden kann. Ähnlich verhält es sich wenig später, als sie einen im Schritttempo schlingernden Wagen verfolgt und, als dieser zum Stehen kommt, beim Anblick des schnarchenden Fahrers zu Protokoll gibt, dieser erscheine ausgenommen „4-7-9“. Durch die Kenntnis der polizeilichen Codes gewinnen spätere Szenen ungleich mehr an Gewicht. Da heißt es dann auf der Polizeistation plötzlich, 1-7-4 antworte bereits seit 20 Minuten nicht mehr ... seit sie für einen Einsatz das Casino-Hotel betreten habe, aus dem zuvor Schüsse erklungen waren.
Schüsse sind es auch, die die Tonebene des ersten Teils im Alonso’schen Triptychon dominieren. Dieser kommt in schwarz-weißem 4:3-Format daher und stellt uns Viggo Mortensen als rächenden Gunman eines B-Movie-Westerns vor. Beinah wie eine Parodie auf Alonsos vorherigen Film „Jauja“ wirkt dieser mit gut 20 Minuten kürzeste Abschnitt des Filmes. Für den Western aus dem Jahr 2014 arbeitete der Argentinier bereits mit dem befreundeten „Herr der Ringe“-Star Mortensen zusammen. Dieser war es auch, der ihm die Kontakte zu Angehörigen der First Nations herstellte. In diesem schlicht mit „Western“ übertitelten ersten Teil geht es Alonso dann auch weniger darum, eine in sich geschlossene Geschichte zu erzählen. Das kurze, sehr überzeichnete Schwarz-Weiß-Drama um Mortensens weißen Rächer ist Teil des den ganzen Film überspannenden Konzepts und ein großer Kontrast zur darauffolgenden zweiten Episode um Sadie und Alaina. In der womöglich erinnerungswürdigsten Szene dieser Auftakterzählung trifft Mortensens Killer auf die von Chiara Mastroianni („Chanson der Liebe“) gespielte Sheriff-Figur El Colonel.
Sowohl Mastroianni als auch (in scheinbarer Separation) ihre Figur El Colonel erscheinen später auch im zweiten und dritten Teil und verkomplizieren dadurch Vorstellungen von Formen der Fiktionalisierung und deren Beziehungen untereinander. Wenn wir uns schließlich, nach gut 90 Minuten, für den dritten Teil des Filmes in die brasilianischen Amazonas-Urwälder des Jahres 1970 abtauchen, ist die Stimmung längst traumwandlerisch geworden. Die Schnitte sind nun zumeist von Überlagerungen dominiert, und die Figuren scheinen nicht in der Lage, zwischen Traum und Wachzustand zu unterscheiden. Plötzlich, so scheint es fast, befinden wir uns in Apichatpong Weerasethakuls „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“. Die Fiktion zeigt sich in diesem Augenblick als eine doppelte, die nicht ohne die ihre vorausgegangenen zu denken ist und der Sehnsucht nach Sui generis eine Absage erteilt.
Fazit: Satte neun Jahre nach seinem Western „Jauja“ kehrt der argentinische Meister Lisandro Alonso mit „Eureka“, einer sichtlich unfertigen, aber endlos faszinierenden Reflexion über das Western-Genre und neue Darstellungsformen indigenen Lebens auf die Kino-Leinwand zurück. Trotz der bis dato längsten Laufzeit seiner Filmographie strebt Alonso aber keineswegs formale Ganzheitlichkeit an, sondern entwickelt stattdessen eine Poetik, die in ihrer Fragmentierung aufgeht.