Mein Konto
    Elf Uhr Nachts
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Elf Uhr Nachts
    Von Jens Hamp

    Neben Francois Truffaut ist Jean-Luc Godard wohl der Regisseur, der die Nouvelle Vague mit seinen Schwarz-Weiß-Filmen entscheidend prägen konnte. Er machte mit Außer Atem Jean-Paul Belmondo endgültig zum Star, huldigte dem Gangsterfilm mit „Die Außenseiterbande“ und brach mit dem Filmessay „Die Geschichte der Nana S.“ mit dem klassischen Erzählkino. Der 1965 entstandene Film „Elf Uhr Nachts“ stellt dagegen einen ersten Wandel im Oeuvre Godards dar. Der Franzose erzählt erstmalig in farbenfrohen Breitwandbildern von einer irrsinnigen Odyssee, in der seine Stammschauspieler Jean-Paul Belmondo (Außer Atem, Casino Royale) und Anna Karina (Eine Frau ist eine Frau) in die Rolle eines dem Alltag entfliehenden Liebespaars schlüpfen.

    Ferdinand „Pierrot“ Griffon (der immer coole Jean-Paul Belmondo) ist von seinem Leben gelangweilt. Gerade erst hat er seinen Job bei einem Fernsehsender verloren. Nun muss er sich mit seiner Ehefrau auf öden Partys der gehobenen Pariser Gesellschaft herumtreiben. Als seine Ex-Geliebte Marianne Renoir (die stets zauberhafte Anna Karina) als Babysitterin eingestellt wird, beschließen die beiden, diesem gesellschaftlichen Gefängnis zu entfliehen. Auf ihrer Flucht in den französischen Süden wird das Paar jedoch von algerischen Waffenschmugglern verfolgt, die es auf die undurchsichtige Marianne abgesehen haben…

    Nachdem während der Kriegsjahre nur heimische Produktionen in den Lichtspielhäusern Frankreichs zu sehen waren, ging in den Fünfzigern ein Ruck durch die französische Filmlandschaft. Urplötzlich bewunderten die Kritiker des „Cahiers du Cinéma“ die geballte Kraft amerikanischer Regisseure wie Howard Hawks, Orson Welles und Alfred Hitchcock. Unter dem Eindruck dieser Meister wurde der französische Film als bieder und traditionell verteufelt. Jedoch spuckte der innere Kreis der Filmkritiker – bestehend aus Claude Chabrol („Die Enttäuschten“, Die zweigeteilte Frau), Jean-Luc Godard, Jacques Rivette („Die Nonne“, „Armour fou“), Èric Rohmer („Die Marquis von O.“) und François Truffaut („Jules und Jim“, „Sie küssten und schlugen ihn“) – nicht nur große Töne, sondern wagte Ende des Jahrzehnts auch erste eigene Schritte im Regiebusiness, wobei die Fehler der Landsmänner vermieden werden sollten. Die Filmemacher unterwarfen sich hierzu der „politique des auteurs“. Danach waren sie verpflichtet, ihre Werke mit einem eigenen Stil zu prägen und nicht nur wie die altgedienten „réalisateurs“ die Vorgaben der Drehbuchautoren abzufilmen. Die Nouvelle Vague (= neue Welle) war geboren. Diese war geprägt von dem Einsatz von Handkameras, Jump Cuts, unbekannten Darstellern und improvisierten Dialogen. Inhaltlich wurde überwiegend ein realistisches Erzählkino geboten, das sichtlich vom italienischen Neorealismus der Nachkriegsjahre beeinflusst war und häufig mit Elementen des amerikanischen Gangsterfilmes verknüpft wurde.

    Mit „Elf Uhr Nachts“ deutet Godard erneut an, zu welch politischem Auteur er sich in den folgenden Jahren entwickeln wird. Zwar beschwört er noch nicht das Ende des Kinos herauf – so wie er es in „Weekend“ verkündet –, die Reise des Paares wird dennoch mehrfach von Ereignissen unterbrochen, die Bezüge zu den Kriegen in Vietnam und Algerien offenbaren. Neben einem von einer Radionachricht inspirierten Gespräch über den Tod mehrerer Soldaten hinterlässt vor allem ein Theaterstück den stärksten Eindruck. Marianne und Pierrot improvisieren darin eine absurde Geschichte über „Uncle Sam‘s Neffen“ und „Onkel Ho‘s Nichte“, womit sie das amerikanische Publikum restlos begeistern.

    Im Vergleich zu den radikal-bruchstückhaften Frühwerken und den späteren politischen Filmen erinnert „Elf Uhr Nachts“ am ehesten an einen Hollywoodfilm. Urplötzlich stimmen die Hauptfiguren (nichtssagende) Lieder an oder setzen sich slapstickhaft mit Tankstellenwärtern auseinander. Im deutlichen Kontrast zu diesen leichtfüßig-beschwingten Szenen stehen jedoch stets die Gesellschaftskommentare, die Godard in seinem Film unterbringt. Besonders eindrucksvoll ist hierbei die von Pierrot besuchte Party zu Beginn. Gelangweilt streift Pierrot durch szenenartige Gespräche der Gäste. Die mit unterschiedlichen Farbfiltern gedrehten Dialoge gleichen dabei einem Werbeslogan für belanglose Konsumgegenstände – und entwerfen so ein ätzendes Bild von der luftleeren und von der Werbung verseuchten Gesellschaft. In einer dieser Partyszene tritt der amerikanische Regisseur Samuel Fuller („The Big Red One“) auf und erklärt dem angeödeten Pierrot sloganhaft die Funktionsweise eines Films: „Film is like a battleground: Love, hate, action, violence, death. In one word: Emotion.“

    Emotionen. Ein simples Wort, das „Elf Uhr Nachts“ bestens beschreibt. Die Liebe zu Marianne zieht Pierrot in einen Strudel aus Gewalt, Hass, Langeweile und Tod. Für sie ist alles nur ein Spiel. Sie möchte eine Existenz wie in einem Buch: „Klar, übersichtlich und logisch.“ Das sie anödende Leben in dem kleinen Versteck an der französischen Küste vergleicht sie mit Jules Verne, obgleich ihr das Leben wie in einem Gangsterroman weitaus lieber ist. Denn die Flucht ist aufregend und belebend. Pierrot dagegen genießt das Leben am Meer. Er liest und schreibt in sein Tagebuch. Vermutlich gibt sie ihm gerade wegen dieses langweiligen Charakters den Namen eines Clowns als Spitznamen.

    Wirklich zu beschreiben ist „Elf Uhr Nachts“ trotz aller Qualitäten nicht. Wie für ein Werk von Godard üblich, lebt der Film von seinen einzelnen Szenen und den zahllosen Einfällen, die der Regisseur in diesen verarbeitet. Der stetige Durchbruch der vierten Wand, der unter den Figuren ironisch kommentiert wird, und das stetige Spiel Godards mit Wiederholungen sowie Voice-Over-Dialogen, in denen Pierrot und Marianne jeweils die bruchstückhaften Sätze des anderen ergänzen, sind tragende Elemente der Inszenierung. Ebenso wie das Hervorheben des „vie“ in „Riviera“, das verdeutlichen soll, dass das Leben für Pierrot und Marianne erst an der Küste wirklich beginnen wird.

    Unter dem Strich eignet sich „Elf Uhr Nachts“ vor allem als Einstieg in die Welt der Nouvelle Vague. In einer wilden Mixtur aus Ideenfragmenten reisen Jean-Luc Godards Stammschauspieler Jean-Paul Belmondo und Anna Karina durch Frankreich. Dabei sind die Feinheiten und Details bei einer ersten Sichtung gar nicht komplett zu fassen. Obgleich „Elf Uhr Nachts“ in der Werkschau Jean-Luc Godards sicherlich zu den zugänglichsten Filmen zählt, wird der Hollywood-gewöhnte Zuschauer aufgrund der unorthodoxen Erzählweise und der improvisiert wirkenden Szenen zunächst Probleme haben. Diese Anlaufschwierigkeiten werden sich jedoch schnell legen und er wird erkennen, welch großen Einfluss die Nouvelle Vague auf das heutige Kino hat.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top