Nichts Neues in der Grusel-Klinik
Von Janick NoltingEntführungen, Wahnvorstellungen und verdrängte Traumata sind offenbar die Lieblingsthemen des amerikanischen Regisseurs Brad Anderson. Egal ob in „Transsiberian“ oder „The Call“ mit Halle Berry – in seinen Filmen geht es meistens düster und vor allem wendungsreich zur Sache. Seinen wohl größten Erfolg bescherte ihm bisher Christian Bale im Jahr 2004 als erschreckend abgemagerter Mann auf Schlafentzug in dem Psychothriller „Der Maschinist“. Seitdem wird man den Eindruck nicht so ganz los, dass sich bei Anderson schnell eine gewisse Formelhaftigkeit eingeschlichen hat, von der leider auch sein neuestes Werk nicht verschont bleibt. Für Netflix schickt er in seinem neuen Thriller „Fractured“ Sam Worthington in eine unheimliche Notaufnahme, wo irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Was folgt, ist ein Film, bei dem geübte Genrefans das Gefühl haben werden, viele Passagen fast mitsprechen zu können.
Zwischen Ray Monroe (Sam Worthington) und seiner Ehefrau Joanne (Lily Rabe) kriselt es. Nach einem Wochenende bei den Schwiegereltern wird im Auto bereits wieder heftig gestritten, nur Tochter Peri (Lucy Capri) scheint die Ehe der beiden noch zusammenzuhalten. Auf einem Rastplatz kommt es zu einem Unfall, bei dem Peri verletzt wird. Schnell eilt die Familie zum nächstgelegenen Krankenhaus, doch in der Notaufnahme scheint man sich um die Hilfesuchenden wenig zu kümmern. Während Ray an der Rezeption wartet, bis seine Frau und seine Tochter aus dem Behandlungszimmer zurückkehren, sind die beiden plötzlich spurlos verschwunden. Und schlimmer noch: Alle im Krankenhaus behaupten, die beiden wären nie dort gewesen…
Nach dem Unfall fährt Ray mit seiner Familie in die Notaufnahme...
„Flightplan“, „Die Vergessenen“, „Eine Dame verschwindet“, „Shutter Island“: Es fallen einem gleich eine ganze Reihe von Filmen ein, die die grundlegende Prämisse von „Fractured“ mit einigen Abwandlungen und verschiedenen Schauplätzen behandelt haben. Und damit wären wir auch schon direkt beim größten Problem des Netflix-Thrillers: Man hat das alles schon so oft gesehen, dass die Geschehnisse wohl kaum noch jemanden überraschen oder gar schockieren werden. Auch die Vergleiche zu den in Deutschland so beliebten Romanen von Bestsellerautor Sebastian Fitzek liegen da auf der Hand, zumal die Ausgangslage der Geschichte fast dieselbe ist wie die in dessen Debütthriller „Die Therapie“ von 2006.
Wo Fitzeks Romane aber immer wieder ihren Unterhaltungswert aus den fast exzessiv vielen Twists und Wendungen ziehen, versagt Brad Andersons Film ausgerechnet an genau dieser Stelle. „Fractured“ schafft es besonders mithilfe seines Schnitts zwischenzeitlich zugegebenermaßen ganz gut, die getrübte Wahrnehmung und die Hilflosigkeit ihres Protagonisten einzufangen, der sich nicht mehr auf seinen eigenen Verstand verlassen kann. Doch anstatt daraus ein spannendes Puzzlespiel zu entwickeln, hakt das Drehbuch lediglich ein altbackenes Klischee nach dem anderen ab. Von den misstrauischen Polizisten über die aufgesetzt freundliche Empfangsdame an der Rezeption bis zu den zwielichtigen Ärzten ist alles dabei!
„Fractured“ fängt trotz der bekannten Ideen eigentlich ansatzweise spannend an! Wenn die Familie hier zu Beginn mit dem Auto mitten durch das Nirgendwo fährt, dann hat man beinahe das Gefühl, den Auftakt eines Horrorfilms zu sehen. Da tauchen plötzlich mit lauten Jumpscares Autos auf der Fahrbahn auf, die die Familie fast in einen Unfall verwickeln, und an der Raststätte wartet hinter der Theke die unheimliche ältere Betreiberin. Das alles ist verpackt in völlig unterkühlte, gräuliche Bilder, die teilweise fast an Schwarz-Weiß-Aufnahmen grenzen, wenn man die Sättigung noch ein kleines Stück weiter runterschrauben würde. Zumindest in dieser Hinsicht erinnert Brad Anderson noch einmal an sein düsteres Meisterwerk „Der Maschinist“. Wo der aber noch mit einem wirklich beeindruckenden Christian Bale in der Hauptrolle glänzen konnte, muss man sich in „Fractured“ leider mit dem eher überfordert wirkenden Sam Worthington begnügen, der hier mal wieder zeigt, dass er in Hollywood meistens doch eher der Mann fürs Grobe anstatt für tiefsinnige Charakterdramen (siehe „Avatar“ oder „Kampf der Titanen“) ist.
Wenn sich Ray gegen seine undurchsichtigen Widersacher wehrt und dabei irgendwann auch handgreiflich wird, macht Worthington eine gute Figur. In den ruhigen, verzweifelten Momenten und bei den Gefühlsausbrüchen merkt man jedoch, dass ihm das Drehbuch besser nicht allzu viel abverlangen möchte. Nur im Zusammenspiel mit Lily Rabe, die in den letzten Jahren vor allem in der Serie „American Horror Story“ ihr ganzes Talent zeigen durfte, gibt es einige solide verkörperte, emotionale Charaktermomente des überforderten Familienvaters zu sehen. Schade, dass die beiden dann (bedingt durch das Verschwinden der Ehefrau) so wenig miteinander interagieren dürfen!
Die meiste Zeit der etwa 100 Minuten plätschert „Fractured“ etwas zäh vor sich hin, dreht sich erzählerisch immer wieder im Kreis, während er seinen Protagonisten mal mehr oder weniger unterhaltsam in den Wahnsinn treibt. Hier und da werden ein paar nette Seitenhiebe gegen das Gesundheitssystem ausgeteilt, doch auch davon gibt es schlichtweg zu wenig. Am bittersten ist dabei, dass der Regisseur mit dem Setting so wenig anzufangen weiß, obwohl er sich seit seinen Filmen „Session 9“ oder auch „Stonehearst Asylum“ mit unheimlichen Kliniken eigentlich bestens auskennen sollte! Die verschlungenen Gänge und verschlossenen Räume geben theoretisch genug her für echten Horror, doch bis er sich diesen Vorteil zunutze macht, ist der Film schon fast wieder vorbei.
... aber schon kurze Zeit später fehlt von Frau und Tochter jede Spur!
„Brav“ ist wohl schließlich das Wort, das einem hier am ehesten in den Sinn kommt. Viel zu brav, obwohl man sich doch mittlerweile besonders bei einer Plattform wie Netflix wünschen würde, dass auch mal etwas gewagtere Stoffe produziert werden (wie es etwa beim am selben Tag veröffentlichten „The Forest Of Love“ von Sion Sono der Fall ist). Das ist alles keinesfalls schlecht gemacht, aber eben zu altbacken und zahnlos, um im Gedächtnis zu bleiben. Obwohl man die finale Auflösung dann schon meilenweit vorher kommen sieht, überrascht immerhin positiv, auf welch melancholischer Note „Fractured“ endet, wenn man plötzlich noch einmal erkennt, was der Zusammenprall der Hauptfigur mit deren Umfeld für eine verheerende Kettenreaktion in Gang gesetzt hat.
Fazit: „Fractured“ ist zahme Psychothriller-Kost, die allenfalls routiniert, aber insgesamt zu klischeehaft geraten ist. Besonders bei dem Erscheinungstermin zur Halloween-Zeit taugt Brad Andersons neues Werk leider allenfalls als laues Aufwärmprogramm für den nächsten Grusel-Filmabend.