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    Wie im echten Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wie im echten Leben

    Ein emotional aufrüttelndes Herzensprojekt

    Von Oliver Kube

    Im ersten Moment fällt es schwer, sich einen Film aus deutscher Produktion vorzustellen, der mit dem französischen Sozialdrama „Wie im echten Leben“ vergleichbar wäre. Ein solches Unterfangen würde aktuell wahrscheinlich schon an der Finanzierung scheitern. Allenfalls würde es – abgeschwächt und rundgeschliffen – als kleine TV-Produktion, nicht aber auf der Kinoleinwand enden. Und bestimmt nicht mit einer solch schonungslosen Härte und einem Star vom Kaliber einer Juliette Binoche. Denn dafür bedürfte es eines Publikumsinteresses an solchen Themen, das den hiesigen Mainstream-Konsument*innen aber offenbar nicht zugetraut wird. Zum Glück haben diejenigen, die tatsächlich gern ernsthafte, realitätsbezogene Stoffe sehen, aber nicht nur Brit-Veteran Ken Loach („Ich, Daniel Blake“), sondern speziell auch die Filmindustrie unseres westlichen Nachbarlandes auf ihrer Seite.

    Fürs französische Kino werden nämlich mit erfreulicher Regelmäßigkeit ganz exzellente Werke dieser Kategorie – auch mit ganz großen Namen vor der Kamera – gemacht. Und sie finden – siehe in den vergangenen Jahren etwa „Zwei Tage, eine Nacht“, „Streik“ oder zuletzt „In den besten Händen“ – auch durchaus breiten Anklang. Der sich fast schon dokumentarisch ganz nah an seinen Figuren bewegende „Wie im echten Leben“ vom bisher vor allem als Autor berühmten Emmanuel Carrère sollte jedenfalls auch in den deutschen Arthouse-Kinos viele Liebhaber*innen finden – und die hat er auch verdient, so schonungslos und wahrhaftig er erzählt beziehungsweise gespielt ist.

    Für Juliette Binoche ist „Wie im echten Leben“ eine wahre Herzensangelegenheit – was sich schon daran zeigt, dass sie jahrelang dafür gekämpft hat, das Buch verfilmen zu dürfen.

    Die gefeierte Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) hat sich als nächstes Projekt ein Buch vorgenommen, das in der Welt der unterprivilegierten Arbeiterschicht spielen soll. Auf diese Weise möchte sie denjenigen Menschen ein Gesicht geben, die mit ihrem harten Alltag unsere von Luxus und Überfluss geprägte Welt am Laufen halten, selbst aber meist buchstäblich von der Hand in den Mund leben müssen. Um das nachfühlen zu können, entschließt sich Marianne zu einem Undercover-Einsatz: Sie reist nach Caen, eine nicht nur in Bezug auf das Klima sehr raue Hafenstadt im Norden Frankreichs, um dort im Jobcenter als frisch geschiedene und mittelose Frau nach einer Arbeit zu fragen. Egel welcher.

    Es dauert nicht lange, bis Marianne an eine ausbeuterische Firma vermittelt und Teil einer Putzkolonne wird. Im Rahmen der ihr alles abfordernden Tätigkeit lernt die Autorin eine Reihe von Menschen (die meisten von ihnen Frauen) kennen, die knallharte Knochenarbeit verrichten, nur um geradeso über die Runden zu kommen. Marianne ist vom Durchhaltevermögen der oft sehr eigenwilligen Charaktere beeindruckt. Die Härte ihrer Schicksale berührt sie ebenso wie die unter den Kolleg*innen herrschende Solidarität. Ein besonderes Band entwickelt sich zwischen ihr und der jungen Christèle (Hélène Lambert). In der alleinerziehenden Mutter glaubt Marianne die Heldin ihres nächsten Bestsellers gefunden zu haben…

    Die Oscargewinnerin und die Laiendarstellerin

    Für die wie immer großartige Juiette Binoche („Die perfekte Ehefrau“) war es eine Herzensangelegenheit, „Wie im echten Leben“ auf die Leinwand zu bringen. Schon 2010, als Florence Aubenas‘ im Stile einer Günter-Wallraff-Investigativ-Reportage gehaltener Erlebnisbericht „Putze: Mein Leben im Dreck“ in Buchform auf den Markt kam, bemühte sie sich persönlich bei der Schriftstellerin um die Filmrechte. Auch nachdem diese zunächst kategorisch ablehnte, blieb Binoche hartnäckig. Jahrelang lud sie Aubenas wieder und wieder zum gemeinsamen Essen ein, um ihr diverse Ideen für eine Adaption vorzustellen. Und das so lange, bis diese endlich überzeugt war.

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    Die Leidenschaft der seit den 1990ern zu den größten Namen des französischen Kinos zählenden Oscar-Preisträgerin (für „Der englische Patient“) für das Thema ist jederzeit spürbar. Trotzdem heißt der eigentliche Star des Films Hélène Lambert. Wie so gut wie alle Szenenpartner*innen von Binoche war auch sie bei Drehbeginn in Bezug auf die Arbeit vor der Kamera eine komplette Novizin. Lambert und das Gros ihrer Kolleg*innen spielen hier mehr oder weniger ihren eigenen Alltag, sind sozusagen aus dem Leben gecastet.

    Am Strand gibt es kurze Augenblicke der Entspannung für Marianne und Christèle (Hélène Lambert).

    Der Mindestlohn-Job wird realistisch gezeigt. Speziell die brutalen Schichten auf einem riesigen Fährschiff im Hafen der bei Caen gelegenen Gemeinde Ouistreham (so lautet auch der Originaltitel des Films) sind schon beim Zuschauen zermürbend. Die Frauen müssen unter enormem Zeitdruck hunderte von oft schwer verdreckten Passagierkabinen blitzblank machen. Lambert legt ihre Figur dabei absolut greifbar, offen und verletzlich an. Wir sehen ihr die Härten ihres undankbaren Lebens an, können uns in den wenigen freien Minuten – etwa, wenn sie mit ihrem Sohn und Marianne am Strand relaxt – aber auch ehrlich mit ihr freuen.

    Als Zuschauer*in bangt man speziell in diesen Momenten mit Marianne, dass bloß nicht herauskommen möge, wer sie wirklich ist und was sie treibt. Denn wie die Protagonistin träumt auch das Kinopublikum davon, dass es möglich sei, gleichberechtigte, bedingungslose Freundschaften und Zuneigung über die mittlerweile unüberwindlich erscheinenden Gräben, ja Schluchten in der Gesellschaft hinweg pflegen zu können. Dabei ist von Anfang an klar, wie die in ihren Emotionen schonungslos gradlinige Christèle Mariannes Täuschung aufnehmen wird – egal mit welch guten Absichten und unter welchen Umständen diese zustande gekommen sein mag. Schließlich ist klar, dass in „Wie im echten Leben“ die Wahrheit ans Licht gelangen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit…

    Fazit: Der dokumentarisch anmutende Realismus in der Schilderung sozialer Missstände fesselt und macht wütend. Dabei rührt das rohe Spiel der geschickt um die wie immer exzellente Juliette Binoche platzierten Laiendarsteller auch schon mal zu Tränen. Ein Film, der nach dem Rollen des Abspanns noch tagelang beim Publikum nachhallen wird.

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