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    Ray & Liz
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ray & Liz

    Bewegender Film voll Hässlichkeit

    Von Lucas Barwenczik

    Wenn von „Worldbuilding“ die Rede ist, sind meist Fantasie-Kontinente und ferne Galaxien gemeint. Doch auch in engen, kargen Räumen können sich ganze Mikrokosmen auftun. „Ray & Liz“ von Regiedebütant Richard Billingham präsentiert das Leben einer armen britischen Familie vor allem als Summe von kleinstmöglichen Details. Bild für Bild baut der Fotograf eine Welt auf – und zwar die seiner eigenen Kindheit. Billingham wuchs in elenden Verhältnissen in Birmingham auf. Berühmt wurde er 1996 mit dem Bildband „Ray's A Laugh“, der vor allem Bilder seiner Eltern zeigt: Porträts der britischen Unterschicht während der Ära Margaret Thatcher. „Ray & Liz“ setzt diese Fotografien in Bewegung, die realen Vorbilder werden von unbekannten und Laien-Darstellern gespielt. Ein Film voll Hässlichkeit, aber ganz sicher kein hässlicher Film.

    Die Handlung steht dabei nicht unbedingt im Vordergrund. Der alternde Ray (Patrick Romer) lebt allein in einem winzigen Zimmerchen und verlässt kaum noch das Bett. Seine einzige Beschäftigung ist der Alkohol. Er erinnert sich in zwei Rückblenden an sein früheres Leben: An seine Frau Liz (Ella Smith), an seine Söhne Jason und Richard, natürlich auch an sein jüngeres Ich (Justin Sallinger). Die erste Erinnerung ist eher komisch: Der ungeschickte Lawrence (Tony Way) soll auf die Kinder aufpassen, aber nichts kommt wie geplant. Die zweite ist tragischer und erzählt von Jasons chaotischem Alltag und den schwerwiegenden Folgen, die es haben kann, wenn ein Kind allein gelassen wird.

    Rays Erinnerungen an seine Familie.

    Billinghams Ursprünge als Fotograf und Videoinstallationskünstler sind in jedem grobkörnigen 16mm-Bild zu erkennen. Viele Einstellungen sind statisch, es wird eher geschnitten als geschwenkt. Kamerabewegung werden zur Betonung von Momenten eingesetzt. Wenn Jason im Zoo einer Giraffe begegnet, fährt die Kamera bedächtig ihren schier endlosen Hals entlang. Diese Formentscheidung passt gut zu dem Leben, dass die Familie führt. Ray und Liz entkommen ihren Umständen nicht, sie sind in ihrem Leben eingesperrt. Das enge Bild im 4:3-Format wirkt wie geschaffen für Menschen, die sich selten frei fühlen.

    Trotz dieser Enge wirkt das Sozialdrama nie bedrückend. Das liegt auch daran, dass der Regisseur jeden Ort in einzelne Objekte zerlegt. Oft füllen winzige Dinge die gesamte Leinwand. Wie kann ein Raum klein sein, in dem Platz für Tausende von Einzelheiten ist? Gläser, erst leer, dann voll, dann wieder leer. Flaschen und Hände, Gemälde und Uhren. Der Film beginnt mit Aufnahmen von einem Schlüssel; dann eine Glühbirne, auf der eine Fliege landet. Überall sind winzige Miniatur-Geschichten zu entdecken. Eine kurze Szene zeigt uns Liz an ihrem Kurzwellenempfänger. Eine Verbindung zur restlichen Welt irgendwo da draußen. Einfach ein Gegenstand, aber eben auch ein Symbol für ihre Einsamkeit.

    Die Menschen und ihre Umstände

    Objekte und Tiere bekommen manchmal fast so viel Aufmerksamkeit wie die Menschen. Das ist zuerst ein wenig befremdlich, doch man erkennt schnell den Gedanken dahinter. Man mag sich in einer Szene fragen, warum immer wieder von einem Streitgespräch auf einen Wellensittich geschnitten wird – bis eine der Figuren sich plötzlich über den lärmigen Vogel beschwert und ihn mit Alkohol übergießt.

    Diesen Ablauf gibt es immer wieder: Erst behauptet die Filmsprache eine Verbindung, dann wird sie sichtbar gemacht. Die Menschen sind nicht einfach Opfer ihre Umstände, sondern werden von ihnen geformt. Billingham zeigt, wie stark der Einfluss der Umwelt auf Menschen ist. Flora und Fauna drücken außerdem das verborgene Innenleben der Figuren aus. Ihre beiden Wohnungen – irgendwann zieht die Familie aus einer scheußlichen Bruchbude in eine etwas erträglichere Hochhaussiedlung – sind voll von Tieren und Naturmotiven. Liz liebt kitschige Blütengestecke und trägt Blumenkleider. An ihrer Wand hängt ein Bild von einem Tiger, auch ihr Puzzle zeigt einen. Zusätzlich gibt es Haustiere en masse: Ein Aquarium mit Fischen, ein junger Hund, ein Wellensittich. Einmal steht Jason Auge in Auge mit einem Panther. Zugegeben, er sieht ihn im Fernsehen, trotzdem reagiert er fast, als stände ein leibhaftiger vor ihm. Außerdem sammelt er eifrig Käfer und Schnecken, seine Eltern fahren ihre Kaninchen im Kinderwagen durch den Stadtpark. Ein Tier, das wie ein Mensch behandelt wird – im Besitz von Menschen, die die Gesellschaft oft wie Tiere behandelt.

    Liz liebt ihre Blumenkleider und ihr Tiger-Puzzle.

    Das Gefühl, direkt in die Erinnerungen eines Menschen zu blicken, erzeugen die vielen langsamen Überblendungen. Hinter der Gegenwart tritt nach und nach die Vergangenheit hervor, für eine Weile existieren beide gleichwertig nebeneinander. Die Rahmenhandlung mit Ray gibt den Rückblenden einen melancholischen Grundton. In seiner Welt werden Probleme nicht gelöst. Um das zu erkennen reicht schon ein Blick auf die verschlissene Tapete. Mancher Riss wurde notdürftig überklebt. Armut bedeutet hier also, dass das Geld fehlt, um vorwärts zu kommen. Fast alle Pfade führen am Ende zu Schmerz und Einsamkeit. Dem Zuschauer wird viel zugetraut und noch mehr zugemutet.

    Und doch gibt es immer wieder Szenen voller Schönheit und Leichtigkeit: Feuerwerk, das Kichern der Kinder nach einem gelungenen Streich, herumalbernde Freunde. Man kann mit den Figuren lachen. Nicht, weil sie einfach Karikaturen wären, sondern, weil man zusammen mit ihnen die Absurdität ihrer Situation erkennt.

    Persönlicher statt politischer Blick

    Wie jeder Film über Menschen am Rand der Gesellschaft wirft auch „Ray & Liz“ Fragen auf. Wie sollte man solches Elend zeigen? Kann man diese Erfahrungen darstellen, ohne sie romantisch zu verklären oder daraus „Armutspornographie“ zu machen, an der sich sensationslüsterne Bildungsbürger vergnügen? Mit anderen sozialrealistischen Filmemachern wie den belgischen Dardenne-Brüdern („Das Kind“) oder seinem Landsmann Ken Loach („Ich, Daniel Blake“) verbindet Billingham wenig. Sein Blick ist nicht offenkundig politisch, sondern klar persönlich gefärbt. Man merkt, wie nah ihm diese Erfahrungen gehen.

    Richard Billingham verliert sich mit „Ray & Liz“ nie in melodramatischem Schreien und Weinen, der Zuschauer wird nicht mit lärmenden Musikeinsätzen erpresst. Jedes Bild ist vielmehr voll von Liebe und Hass. Verachtung, Mitleid und Zuneigung existieren nebeneinander und halten sich bis zur letzten Schwarzblende die Waage. Am Ende spielt Musik.

    Fazit: Mit „Ray & Liz“ erweitert Fotograf und Künstler Richard Billingham seine bisherige Arbeit um neue Facetten. Ihm gelingt dabei ein eindrückliches Drama, unaufgeregt und bewegend.

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