Von der Vergangenheit eingeholt
Von Jörg BrandesDer Fall der Berliner Mauer liegt inzwischen 30 Jahre zurück. Dennoch ist das Kino längst nicht müde, Geschichten zu erzählen, in denen die deutsch-deutsche Grenze eine Rolle spielt. Oft handeln die Stories von einer mehr oder weniger spektakulären Flucht in den Westen wie etwa in Michael Herbigs „Ballon“. Oder von einer Liebe, der der Eiserne Vorhang im Wege steht, die jüngsten Beispiele dafür sind „Traumfabrik“ und „Zwischen uns die Mauer“. In „Was gewesen wäre“, dem Regiedebüt von Florian Koerner von Gustorf, der sich bislang vor allem als Produzent von Christian-Petzold-Werken (u. a. „Transit“, „Barbara“) einen Namen gemacht hat, geht es nun um beides: um Flucht und um Liebe. Dazu geht der Film, für den der Romanvorlagenautor Gregor Sander selbst das Drehbuch geschrieben hat, der Frage nach, „was gewesen wäre“, wenn eine zentrale Entscheidung der Hauptfigur anders ausgefallen wäre. Aber ausgerechnet bei diesem Aspekt offenbart der Film eine nicht unwesentliche Schwäche.
Ärztin Astrid (Christiane Paul) ist Ende 40 und hat sich in ihren Herzpatienten Paul (Ronald Zehrfeld) verliebt. Mit dem ist sie nun seit fast drei Monaten zusammen. Ein ausgedehntes Wochenende in Budapest, wo Astrid zu DDR-Zeiten schon einmal einen denkwürdigen Urlaub verbrachte, soll dem frisch gebackenen Paar zusätzlichen romantischen Schwung geben. Doch es kommt anders, als die Chirurgin Julius (Sebastian Hülk) wiedersieht, der mit seinem Halbbruder Sascha (Barnaby Metschurat) zufällig zur selben Zeit im selben Luxushotel abgestiegen ist. Julius war ihre große Jugendliebe und floh irgendwann aus der DDR. Die Erinnerungen an jene Zeit kommen in Astrid unweigerlich wieder hoch und damit auch die Frage, ob sie damals womöglich einen Fehler gemacht hat…
Astrid (Christiane Paul) hat mit ihrem Patienten Paul (Ronald Zehrfeld) eine neue Liebe gefunden...
Budapest ist prächtig. Und der Regisseur enthält dem Zuschauer die Schönheit der ungarischen Hauptstadt nicht vor. Mal rückt er die Fischer-Bastei in den Blick, mal das ebenso berühmte, im Jugendstil gehaltene Gellértbad, in dem ebenfalls einige Szenen spielen. Daneben fällt der zurückhaltende Erzählton positiv auf. Astrid und Paul benehmen sich in der anregenden Umgebung eben nicht wie frisch verknallte Teenager, sondern wie Erwachsene, die in Sachen Liebe schon einiges erlebt haben. Auch ohne große Gefühlsausbrüche machen Christiane Paul und Ronald Zehrfeld klar, was in ihren Figuren vorgeht. Und das ist einiges. Schließlich legt es der Film nicht darauf an, dass die Ärztin möglichst lange vor ihrem neuen Lover ihr Geheimnis bewahrt. Paul ist relativ schnell informiert – und muss nun wie seine Gefährtin auch erst einmal herausfinden, was er von der neuen Situation halten soll. Kann er Astrids Gefühlen für ihn trauen oder ist eher Eifersucht angebracht?
Doch was bei den in der Gegenwart spielenden Passagen angemessen erscheint, erweist sich bei den Rückblenden in die Vergangenheit eher von Nachteil. Da sollte es eigentlich gelten, verständlich zu machen, warum Astrid von der Wiederbegegnung mit Julius so tief erschüttert wird. Aber die große Liebe, die die junge Astrid (Mercedes Müller) angeblich für den jungen Julius (Leonard Kunz) empfindet, bleibt weitgehend Behauptung. Das ist keineswegs den beiden Darstellern anzulasten, die überdies optisch perfekt passend zu ihren erwachsenen Pendants gecastet wurden. Das Manko ergibt sich mehr aus einer Inszenierung, der große Gefühle eben fremd sind, sowie einer etwas laschen Figurenzeichnung. Warum genau Astrid auf Julius abfährt, den sie 1986 auf einer Party kennenlernt und der meist mehrere Eisen im Feuer hat, bleibt rätselhaft. Die Frage „Was wäre gewesen, wenn...“ stellt sich jedenfalls nicht zwingend.
... aber das überraschende Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe Julius (Sebastian Hülk) wirft sie trotzdem erstmal aus der Bahn.
Und, wenn wir schon in Ungarn sind, warum nicht noch ein bisschen Kritik an Viktor Orbán einstreuen? Die wird geäußert, als Astrid, Paul und die beiden Galeriebesitzer Julius und Sascha bei einem Künstlerehepaar (Erika Marozsán, Tamás Lengyel) zu Gast sind – und das wirkt zunächst ein wenig bemüht und eher dem Zeitgeist geschuldet. Doch dieser Eindruck ändert sich, sobald das Sextett gemeinsam zu dem Ort an der Grenze zum heutigen Serbien aufbricht, an dem Julius einst die Flucht in den Westen gelang. Mit dem Eisernen Vorhang im Kopf, der Ost- und Westeuropa lange voneinander trennte, läuft es einem beim Anblick des Zauns, den der ungarische Ministerpräsident hier nicht ohne Billigung der EU gegen Flüchtlinge hat errichten lassen, kalt den Rücken herunter.
Der Titel „Was gewesen wäre“ stellt explizit die Frage nach einem Moment in der Vergangenheit. Aber was Spannendes zu sagen hat der Film vor allem über die Gegenwart…
Fazit: Einer überzeugenden Gegenwartshandlung steht eine Coming-of-Age-Liebesgeschichte aus der DDR-Vergangenheit gegenüber, die emotional längst nicht so zündet, wie es eigentlich nötig gewesen wäre.