Der weibliche Blick
Von Michael MeynsHistorische Filme erzählen weniger über die Zeit, in der sie spielen, als über die Zeit, in der sie entstehen. Diese Sentenz bewahrheitet sich einmal mehr bei Céline Sciammas Historienfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, der zwar von einer Porträtmalerin und ihrem Subjekt im späten 18. Jahrhundert erzählt, vor allem jedoch eine sehr heutige Reflektion über den weiblichen Blick ist. So unmittelbar und wuchtig wie in Sciammas vorherigem Film „Girlhood“ sind die Emotionen hier zwar nicht, dafür hat die Autorin ein komplexes, vielschichtiges Skript geschrieben, für das sie bei den Filmfestspielen in Cannes zu Recht mit dem Preis für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.
Frankreich, 1770. Per Ruderboot wird die Porträtmalerin Marianne (Noémie Merlant) an eine abgelegene Stelle der Bretagne gebracht. Im Auftrag einer verwitweten italienischen Gräfin (Valeria Golino) soll sie ein Porträt von deren Tochter Héloïse (Adèle Haenel) malen. Dieses Bild ist nötig, um Héloïse geplante Ehe zu einem ihr unbekannten Mann in Mailand offiziell zu machen. Doch Héloïse sträubt sich gegen diese arrangierte Ehe und dementsprechend gegen das Porträt. So muss Marianne, die Héloïse als Kameradin für Spaziergänge vorgestellt wird, im Geheimen aus der Erinnerung malen. Dafür blickt sie Héloïse während gemeinsamer Ausflüge an der rauen Küste umso eindringlicher an – und verliebt sich unweigerlich in sie …
Aus Malerin und Gemalter ...
Viel ist in den vergangenen Jahren vom Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Blick die Rede, von der Art, wie Männer Frauen filmen und was für einen Blick Regisseurinnen dieser entgegenzusetzen haben. Macht es wirklich einen Unterschied, ob wie bei „Wonder Woman“ mit Patty Jenkins eine Regisseurin eine knapp bekleidete Superheldin filmt? Ist es sexistisch, wenn wie bei Abdelatif Kechichs „Blau ist eine warme Farbe“ ein Mann eine explizite lesbische Sexszene inszeniert? All diese Fragen schwingen in Célines Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ mit, eingebettet in eine Geschichte, die die gesellschaftlichen Restriktionen des 18. Jahrhunderts spiegelt.
Auf der einen Seite die weitestgehend unabhängig lebende Marianne, die in Nachfolge ihres Vaters als Porträtmalerin arbeitet, allerdings auch hier nicht völlig frei ist. Offizielle Aufträge bekommt sie in erster Linie für Porträts von Frauen, die in der Zeit vor der Erfindung der Photographie für die höheren Klassen dringend benötigt wurden, um fernmündlich getroffene Verbindungen zu besiegeln. Insofern trägt Marianne mit ihrer Arbeit auch dazu bei, dass das Model arrangierter Ehen bestehen bleibt. In diesem Korsett bewegt sich Héloïse, die als Tochter einer Gräfin nur zwei Möglichkeiten hat: Entweder wählt sie ein Leben im Kloster oder sie heiratet einen ihr in aller Regel unbekannten Mann, der vor allem seiner gesellschaftlichen Position wegen ausgesucht wird. Nach dem Tod ihrer Schwester – die sich einer arrangierten Ehe durch Selbstmord entzog – liegt der Druck und die Erwartungen ihrer Mutter nun auf Héloïse. Anfangs sträubt sie sich dementsprechend gegen das Malen des Porträts, will sich nicht freiwillig zur Verfügung stellen. Umso eindringlicher sind Mariannes Blicke, die versucht, sich Héloïse Gesichtszüge einzuprägen und aus dem Gedächtnis zu malen.
... werden zwei tragische Liebende.
In gewisser Weise ist das ein Verrat an ihrer Verbindung, den Héloïse jedoch hinnimmt, wohl wissend, dass sie ihrem vorbestimmten Schicksal nicht entgehen kann. Das erste Porträt zerstört Marianne noch und erschleicht sich so die Gelegenheit, ein paar Tage mehr mit Héloïse verbringen zu können. Trotzdem ist die kurze Affäre zwischen Héloïse und Marianne zum Scheitern bestimmt, so wie die in Frankreich legendäre Liebesgeschichte zwischen dem Namensvorbild Héloïse und Abaelard. Oder auch die zwischen Orpheus und Eurydike, auf die vielfach angespielt wird. Mit seinem Blick tötete Orpheus in der antiken Legende seine Geliebte Eurydike, vielleicht aber – so Héloïse Interpretation – wollte er mit dem Blick auch nur diesen Moment festhalten, sich eine Erinnerung an Eurydike bewahren. So mag es auch Marianne gehen, die zwar eine unabhängige Frau ist, in der von Konventionen geprägten Welt, in der sie lebt, aber dennoch nicht mit Héloïse zusammen sein kann.
250 Jahre später hat sich viel geändert, manches jedoch nicht. Marianne muss heimlich Aktbilder malen, weil das zur damaligen Zeit ausschließlich Männern erlaubt war. Gerade das Kino ist hingegen bis heute noch immer stark von einem männlichen Blick geprägt, stellt gern schöne Frauen in den Mittelpunkt, die meist von Männern gefilmt werden. Sciamma dreht diesen Blick um, filmt Frauen aus weiblicher Sicht, zeigt zwar erotische Bilder, doch der Unterschied zu einer männlichen Darstellung weiblicher Sexualität ist deutlich zu spüren. In keinem Moment ausgestellt wirken die Körper hier, nicht als passive Objekte, sondern als autarke Subjekte. Dennoch ist „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ in keinem Moment ein ideologischer Film, sondern bei aller Beschäftigung mit zeitgemäßen gesellschaftlichen Fragen in erster Linie eine wunderbar gefilmte, tragische Liebesgeschichte.
Fazit: Céline Sciamma gelingt in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ eine vielschichtige Reflektion über weibliches Begehren, weibliche Blicke und eine unmögliche Liebe.
Wir haben „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.