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    Honey Boy
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Honey Boy

    Viel mehr als eine Nabelschau

    Von Oliver Kube

    Alkohol, Drogen, verbale Ausfälle, körperliche Auseinandersetzungen auch mit Polizisten, schräge Aktionskunst-Performances und Abmahnungen wegen offensichtlicher Copyright-Verletzungen: „Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels“-Star Shia LaBeouf ist für seine Eskapaden, Exzesse und Fehlleistungen längst ebenso berüchtigt wie für seine Leistungen auf der Leinwand berühmt. Einer der Hauptgründe für sein oft eigenwilliges Auftreten dürfte auch seine - gelinde gesagt - ungewöhnliche Kindheit sein: Mit dem stark autobiografische Züge aufweisenden Drehbuch zum Drama „Honey Boy“ versucht LaBeouf nun, diese zu verarbeiten. Das Projekt hatte seinen Ursprung in einem Essay, das er als Teil der Suchttherapie in einer Entzugsklinik schrieb. Im Film übernimmt er zusätzlich die wohl anspruchsvollste aller Rollen – er spielt nämlich ausgerechnet die Figur, die eng an seinen realen Vater angelehnt ist.

    Auf dem Regiestuhl hat unterdessen Alma Har'el platzgenommen. 2011 hatte LaBeouf ihre mehrfach ausgezeichnete, experimentell anmutende Dokumentation „Bombay Beach“ gesehen. Der Star war so begeistert, dass er die Israelin spontan kontaktierte, um anzufragen, ob sie mit ihm arbeiten wolle. Wenig später spielte er die Hauptrolle in ihrem Aufsehen erregenden Musikvideo „Fjögur píanó“ der isländischen Post-Rock-Giganten Sigur Rós. Mit ihrer erneuten Kollaboration „Honey Boy“ liefert Har'el nun ein wirklich sehr vielversprechendes Spielfilmdebüt ab.

    Der titelgebende Honey Boy: Otis alias der junge Shia LaBeouf!

    Otis (Noah Jupe) ist zwölf Jahre alt und als Schauspieler zumindest erfolgreich genug, um sich selbst und seine geschiedenen Eltern zu ernähren. Da wäre einerseits seine selbstsüchtige Mutter (kaum zu sehen: Natasha Lyonne) und andererseits sein Vater, der Ex-Rodeo-Clown James (Shia LaBeouf). Während seine Karriere immer mehr an Fahrt aufnimmt, ist zu Hause bei seinem Dad allerdings längst nicht alles in Ordnung. Der Alkoholiker und verurteilte Sexualtäter haust mit dem Jungen in einem schäbigen Motelzimmer und ist vom Leben enttäuscht. Diese Frustration lässt er tagein, tagaus an seinem Sohn aus.

    Selbst zehn Jahre später hat der mittlerweile zu einem veritablen Hollywoodstar aufgestiegene Otis (jetzt: Lucas Hedges) unter der emotionalen Vernachlässigung sowie den konstanten Erniedrigungen durch seinen Vater zu leiden. Otis ist selbst zum Säufer geworden, nimmt fleißig Drogen und leidet unter psychischen Störungen, die ihn immer wieder ausrasten lassen. Seine Therapeutin (Laura San Giacomo) diagnostiziert bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung – wie bei einem Frontsoldaten, der aus dem Kriegseinsatz heimkehrt...

    Im falschen Film?

    Der Film startet mit den letzten Momenten einer gigantischen CGI-Actionszene. Lucas Hedges ist als 22-jähriger Otis zu sehen, wie er vor einem qualmenden Flugzeugwrack steht und in die Weite des Raums starrt. Plötzlich sehen wir Panik in seinen Augen. Reflexartig hebt er die Hände zum Schutz. Doch was sollen die gegen die um ihn herum für gewaltige Explosionen sorgenden Raketeneinschläge ausrichten? Ein weiteres Geschoss verfehlt ihn nur um Haaresbreite und die Druckwelle katapultiert den jungen Mann mit Macht in Richtung des zerstörten Fliegers – alles wie in einem richtigen Blockbuster und eine recht klare Anspielung auf die von Michael Bay inszenierte „Transformers“-Reihe, mit der Shia LaBoeuf einst der Aufstieg in Hollywoods A-Liste gelang ...

    ... und so stellt sich dann auch schnell heraus, dass es sich bei diesem Szenario um einen Filmset handelt. Otis hängt an Drähten, Crewmitglieder rennen mit Feuerlöschern durchs Bild, der Regisseur des Spektakels brüllt „Cut!“ und eine Klappe lässt uns wissen, wir befinden uns gerade im Jahr 2005. Nach Drehschluss verursacht Otis dann unter Alkohol- und Drogen-Einfluss einen schweren Crash, der um ein Haar ihn und seine Freundin tötet. Er wird verhaftet – offenbar nicht zum ersten Mal.

    Shia LaBeouf spielt quasi seinen eigenen Vater ...

    Regisseurin Alma Har'el und Kamerafrau Natasha Braier („The Neon Demon“) haben den Unfall so geschickt und verfremdet in Szene gesetzt, dass sich der Zuschauer zunächst nicht sicher sein kann, ob dieser nicht vielleicht doch wieder nur Teil eines Drehs ist. Ein Kniff, den das Duo in der weiteren Laufzeit dankenswerterweise aber nicht überstrapaziert. Das Publikum bleibt trotz einiger leicht repetitiv wirkender Momente an der faszinierenden, zwischen zwei Zeitebenen hin und herspringenden Charaktergeschichte dran. Dafür sorgt schon der erstklassige Cast. Lucas Hedges, der momentan scheinbar nichts falsch machen kann, wenn man sich seine brillanten Performances in „Der verlorene Sohn“, „Ben Is Back“ oder „Waves“ ansieht, spielt die Rolle punktgenau. Er mimt authentisch den arroganten Fatzke, der zugleich ein verunsicherter Knabe auf der Suche nach sich selbst ist.

    Noch spektakulärer, weil in ihren Darstellungen vielschichtiger, sind der den kleinen Otis verkörpernde Noah Jupe („A Quiet Place 2“) und LaBeouf selbst. Letzterer hat die wohl schwierigste Aufgabe zu bewältigen. Denn James ist ein höchst ambivalenter Charakter. Einerseits liebt er seinen Sprössling – das schimmert klar durch, wenn er ihn Honey Boy nennt. Andererseits hegt er starke Ressentiments gegen ihn. Schließlich hat der Junge schon vor dem Eintritt ins Teenageralter mehr erreicht als er in seinem kompletten, vermurksten Leben. James ist Otis‘ Chauffeur, sein Assistent, seine Aufsichtsperson, sein Kindermädchen für alles. Er ist Angestellter des Knirpses und als solcher auf den monatlichen Scheck angewiesen, um die Miete für seine Bude in dem heruntergekommenen, leicht an die Absteige in „The Florida Project“ erinnernden Motel aufbringen zu können.

    Schillernde Selbsttherapie

    James erniedrigt seinen Sohn, macht sich über sein angeblich viel zu kleines Geschlechtsteil lustig, reißt rassistische und sexistische Witze, lässt den Jungen kleine Frondienste erledigen, zwingt ihn Liegestütze zu machen und scheuert ihm auch schon mal eine. Es ist nur allzu verständlich, dass der Junge verwirrt und traumatisiert ist und ihm das alles selbst als Erwachsenen noch schwer beschäftigt. LaBeouf kann in seinem Part richtig vom Leder ziehen und schafft es trotzdem, Mitleid für seine Figur zu erzeugen beziehungsweise den gewalttätigen Loser bisweilen sogar sympathisch wirken zu lassen. Derlei Widersprüche plus die kleinen, dem Zuschauer indirekt vieles von seinem Verhalten erklärenden Storys, die James über seine Vergangenheit als Kleinkünstler, als Soldat oder die eigene Kindheit erzählt, machen ihn zu einem schillernden, aufgrund seiner Komplexität und Ambivalent spannenden Charakter.

    ... und nimmt damit eine sehr ambivalente, schädliche und widersprüchliche Rolle im Leben seines Filmsohnes ein.

    So kaputt diese Vater-Sohn-Beziehung auch sein mag, so realistisch wirkt sie im Rahmen der Handlung. Weit weniger glaubhaft und wie reingezwängt kommt hingegen die Freundschaft (und mehr! – so wird es zumindest angedeutet) von Otis mit einer dem horizontalen Gewerbe nachgehenden jungen Frau, gespielt von FKA Twigs, daher. Die intimen Momente zwischen dem ungleichen Paar wirken ebenso konstruiert wie creepy. Ein Eindruck, der durch die hölzerne Darbietung der Grammy-nominierten Trip-Hop-Sängerin leider noch zusätzlich unterstrichen wird. Sie ist der einzige Schwachpunkt in der ansonsten erstklassigen Schauspieler-Riege.

    Es ist wünschenswert und durchaus möglich, dass das ihm tatsächlich von Psychologen in seiner Entzugsklinik empfohlene, offene, ehrliche und uneitle Niederschreiben seiner Erlebnisse sowie deren nun erfolgte, sich kleine erzählerische Freiheiten nehmende Verfilmung von therapeutischem Wert für LaBeouf sind. Ob er dadurch tatsächlich Frieden mit seiner Vergangenheit (und vielleicht sogar seinem Vater?) schließen kann, können nur der Mann selbst und die Menschen in seinem engsten Umfeld beurteilen. Sein exzellenter Auftritt zeigt jedoch einmal mehr sein definitiv großes Talent. Zudem hat der Kalifornier uns Kinofans mit seinem Skript eine enorm unterhaltsame, zum Lachen, zum Weinen, zum Nachdenken und zum Mitfühlen anregende Geschichte beschert, die obgleich ihrer melancholischen bis geradewegs deprimierenden Momente auch eine erstaunliche Leichtigkeit aufweist.

    Fazit: Ein fesselnd emotionales, erstaunlich ehrlich und ungeschönt erzähltes Charakterdrama mit spannendem Meta-Appeal von, mit und über Shia LaBeouf, eines der interessantesten Hollywood-Gesichter der Gegenwart.

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