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    Liberté
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Liberté

    Kuriose Fickerei

    Von Lucas Barwenczik

    Ich werde ficken, ich habe gefickt, wir werden ficken, ich bin gefickt, die Welt ist eine Fickerei, das einzige Glück ist das Ficken!“ So fasste Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki einmal den Inhalt eines missliebigen Romans zusammen. Und auf den ersten Blick trifft diese Beschreibung auch auf den neuen Film des katalanischen Regisseurs Albert Serra zu. Denn „Liberté“ – basierend auf Serras gleichnamigen Theaterstück, das im Frühjahr 2018 an der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde - zeigt vor allem eins: Sex – und zwar oft eher ungewöhnlichen, fast schon grenzwertigen. Doch die düstere Tragikomödie ist nie einfach nur vulgär, sondern auch voll von absurdem Humor und mit einer bemerkenswerten Klarsicht gesegnet. Es ist ein Film über Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Und immer steht die Frage im Raum: Wie frei ist die freie Liebe wirklich?

    „Liberté“ ist gewiss kein klassisches Erzählkino, die Handlung ist schnell zusammengefasst: Wir schreiben das Jahr 1774, die Französische Revolution rückt unaufhaltsam näher. In einem Wald zwischen Potsdam und Berlin treffen französische Freidenker auf den Duc de Walchen (Helmut Berger). Die jungen, adeligen Libertins wollen den deutschen Herzog für ihre Ideen gewinnen: die Ablehnung von Autorität und freie Liebe. Es folgt eine lange Nacht mit immer abseitigeren sexuellen Überraschungen.

    Verführung des Zuschauers

    Genau so, wie der Herzog verführt werden soll, will auch Serra sein Publikum für sich einnehmen und es in eine fremdartige Welt entführen. Wichtiger als ein klarer Plot sind die vielen einzigartigen Eindrücke und Momente des Films. Die Bilder sind düster und rätselhaft. Im Gegensatz zu früheren Filmen von Serra treten keine übernatürlichen Figuren wie etwa Dracula auf. Dennoch haben die Ereignisse etwas Mythisches.

    Die endlosen Sexszenen im Film sind merkwürdig. Einerseits wirken sie oft sehr banal und allzu menschlich, weil sie mit denselben Ängsten und Hoffnungen wie in der Realität verbunden sind. Auch Fürsten haben mal Probleme mit ihrem Zepter. Die Körper sind oft nicht besonders schön anzusehen, sondern eher aufgequollen und unförmig. Die bleichgeschminkten Gesichter und gepuderten Lockenperücken der Adeligen tragen nicht zur Würde des Geschlechtsakts bei. Gleichzeitig aber haben die Vereinigungen auch etwas von einem verbotenen Ritual. Als sollte dadurch ein Dämon beschworen oder der ungeliebte König verwunschen werden.

    Penisse und Vaginen en masse

    Und damit enden die Widersprüche nicht: Der Film präsentiert sich gleichzeitig sehr explizit und ein wenig verschüchtert. Es gibt Penisse und Vaginen en masse zu sehen, alle erdenklichen Körperflüssigkeiten fließen – im wahrsten Sinne des Wortes – eimerweise. Gleichzeitig aber verbergen die Schatten der Nacht einiges. Der ganze Wald wirkt lebendig. Er schiebt sich vor den Blick der Kamera. Er bedrängt und sorgt für ein Gefühl von Beklemmung. Jedes Rascheln könnte ein Tier oder ein Mensch sein, an diesem Ort unterscheidet sie ohnehin nicht so viel. In der Düsternis scheinen die Figuren oft miteinander zu verschmelzen. So wie der Verstand müssen sich auch die Augen an die Schwärze des Films gewöhnen. Die Kamera bewegt sich kaum, wodurch viele Einstellung an Gemälde aus dem 18. Jahrhundert erinnern, die man zum Leben erweckt hat.

    Die schrägen Dialoge wechseln überraschend schnell von feingeistiger Poesie zu Formulierungen wie „Pisse ins Arschloch“. Ein langer Einstiegsmonolog beschreibt die (erfundene) Hinrichtung von Ludwig XV. in blutigen Details. Das Verlangen dieser Libertins hängst unmittelbar mit Leid zusammen, sie sind Sadisten. Das leben sie später auch aus. In einem anderen Gespräch beschreibt ein Adeliger in blumigen Details, was er mit einem jungen Rind anfangen könnte. Als seine Gespielin nicht gleichermaßen originelle Einfälle hat, reagiert er unfreundlich. Für ihn darf es immer nur abseitiger und perverser werden. Wer nicht mitzieht, ist verdächtig.

    Nackt und adelig.

    Man merkt schnell: Albert Serra hat mit „Liberté“ keinen Film gemacht, der unbedingt geliebt oder auch nur gemocht werden soll. Wie die Libertins hat er etwas Widerspenstiges. Vieles wird der Fantasie des Zuschauers überlassen, erklärt wird kaum. Wer im Kino gerne an der Hand genommen wird, verirrt sich hier. Doch auch um eine reine Provokation geht es nicht. Schon vor Jahrzehnten hat man in Kino und Theater Extremeres gesehen. Ohnehin: Wer lässt sich im Jahr 2019, wo Pornhub und Co. immer nur einen Klick entfernt sind, noch von Sex schockieren? „Liberté“ ist so auch bei Weitem nicht so verstörend wie etwa Pier Paolo Pasolinis vergleichbare Faschismus-Orgie „Die 120 Tage von Sodom“. Es ist eher das humorige Gegenstück, das man verzaubert verlässt.

    Dabei geht es eher um die Trauer und Lächerlichkeit, die am Ende einer hilflosen Provokation noch bleibt. Sind die Libertins einmal nackt, kann man ihnen die politischen und philosophischen Absichten nicht mehr ansehen. Zumindest in diesem Film führt ihre sexuelle Freiheit nicht ins Glück. Traurig staksen die einsamen Gestalten durch das düstere Unterholz. Wenn sie große Lust fühlen, dann ist es ihnen zumindest nicht anzumerken. Der Film ist kein bisschen sexy und soll es offensichtlich auch nicht sein.

    Blick auf die Mächtigen

    Womöglich könnte der Film auch von Völlerei handeln, vom ungehemmten Konsum. Oder vom Tod, wie zuletzt so oft bei Albert Serra. Seine Faszination mit Adeligen und ihren Körpern scheint kein Ende zu nehmen. Zuletzt präsentierte er in gleich zwei Filmen den Sonnenkönig, in „Der Tod von Ludwig XIV.“ konnte man ihm zwei Stunden lang beim Sterben zusehen. Die Mächtigen sind bei Serra immer gleichzeitig Mensch und Übermensch. Sie stehen für große Ideen, zum Beispiel für die Monarchie. Oder, im Fall des legendären Jean-Pierre Léaud, für das Kino selbst. Sie sind aber auch Körper, die verletzt werden und verfallen können. Und eben auch Lust empfinden.

    „Liberté“ zeigt zudem eine Welt der Voyeure. Kaum ein Akt, den nicht irgendjemand aus einer Hecke oder hinter einem Baum verborgen beobachten würde. Eine Figur hat zu diesem Zweck sogar ein goldenes Fernglas dabei. Die vielen überraschten, ungläubig staunenden oder irritierten Blicke tragen enorm zur schrägen Komik des Films bei. Stellenweise wirken die Gaffer wie Zuschauer bei einem Fußballspiel, die bei jedem Freistoß mitfiebern. Und genau das ist der Sex der Libertins bei Serra oft: ein Sport, ein absurdes Spiel mit unklaren Regeln, manchmal sogar ein Wettbewerb mit Gewinnern und Verlierern. Auch bei der freien Liebe, ob im 18. Jahrhundert, bei den Hippies oder heute, bleibt Macht ein wichtiger Faktor.

    Fazit: Albert Serra bleibt sich treu und erforscht in seinem unverkennbaren Stil Körper und Gesellschaft. Ein Kuriositätenkabinett für Anhänger des Abseitigen, das man belustigt, irritiert und grübelnd ob all der Fickerei verlässt. Und das ist ein schönes Gefühl.

    Wir haben „Liberté“ auf dem Filmfest München gesehen, wo er im Wettbewerb CineMasters gezeigt wurde.

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