Vater Vs. Tochter – im ultimativen Survival-Duell
Von Michael Meyns„Wenn du vor etwas Angst hast und um dein Leben rennst, wohin würdest du fliehen?“ Mit dieser Frage konfrontiert ein Vater seine kleine Tochter gleich zu Beginn von „Das Erwachen der Jägerin“, als die beiden gemeinsam im Wald auf die Pirsch gehen. Aber wenn ein Film mit einem solch auffällig ausgestellten Satz beginnt, dann weiß man eigentlich auch schon, wie die Geschichte enden wird – und genau diese Vorhersehbarkeit ist das größte Manko der Bestseller-Verfilmung von Neil Burger („Ohne Limit“). Ja, die „Star Wars“- und MARVEL-Stars Ben Mendelsohn und Daisy Ridley überzeugen als durch eine ungewöhnliche Hassliebe miteinander verbundenes Vater-Tochter-Gespann – aber die interessanten Ansätze, guten Schauspielleistungen und starken Bilder reichen leider nicht aus, um die behäbig erzählte Story auszugleichen.
Die zehnjährige Helena (Brooklyn Prince) wächst in der Wildnis auf. Gemeinsam mit ihren Eltern Beth (Caren Pistorius) und Jacob (Ben Mendelsohn) lebt sie in einer Hütte im Wald, umgeben von Mooren und Flüssen. Doch die scheinbare Freiheit ist in Wahrheit ein Gefängnis: Jacob hat Beth einst entführt – und so kennt Helena gar nichts anderes als dieses Leben. Nur durch einen Zufall können sich Mutter und Tochter befreien. Jahre später lebt die erwachsene Helena (jetzt gespielt von Daisy Ridley) mit Mann (Garrett Hedlund) und Kind in einem bürgerlichen Vorort ein beschauliches Leben. Aber als ihr Vater aus dem Gefängnis ausbricht, ist Helena sofort klar, dass sie und ihre Familie nicht mehr sicher sind. Sie kann sich nicht verstecken – und so bleibt nur die direkte Konfrontation…
„Dahin, wo mich keiner sehen kann“, lautete einst die Antwort der jungen Helena auf die Frage ihres Vaters nach dem besten Zufluchtsort. Aber unsichtbar zu werden, ist in der modernen Welt kaum noch möglich. Die erwachsene Helena hat sich deshalb stets um Anpassung bemüht. Sie führt ein konventionelles Leben, ihre vielen Tattoos hat sie mit Schminke übermalt, sie arbeitet in einem Großraumbüro, dessen niedrigen Decken den Kontrast zur Freiheit der Natur versinnbildlichen. Ihre Mutter ist längst gestorben, doch das Trauma ihrer Kindheit sitzt noch tief: Sie wurde in Gefangenschaft geboren – aber ahnte davon viele Jahre lang gar nichts. Stattdessen lernte sie einen Mann als Vater kennen und lieben, während die Mutter nur blieb, um sich und das Kind zu schützen.
Ein wenig erinnert diese Konstellation an „Raum“, in dem die für diese Rolle oscarprämierte Brie Larson als eingesperrte Mutter ihrem Kind ebenfalls eine heile Welt vorspielt, selbst wenn sie gemeinsam auf engstem Raum in Gefangenschaft leben. Die stärksten Momente von „Das Erwachen der Jägerin“ sind dann auch die ersten Minuten – gerade wenn man die Romanvorlage von Karen Dionne, die in Deutschland als „Die Moortochter“ veröffentlicht wurde, nicht gelesen hat: Es ist eine irritierend zeitlose Welt, in der Jacob und Helena wie Trapper durch die Wälder ziehen, unbeschwert und frei. Dass die Mutter außen vorbleibt, streng und unnahbar, lässt sie für Helena zu einer Art Gegnerin werden. Warum sie so handelt, erfährt man erst, als plötzlich ein Mann auf einem Quad-Bike auftaucht und sich die unerwartete Gelegenheit zur Flucht bietet.
Aus heiterem Himmel muss Helena nun realisieren, dass ihr geliebter Vater eigentlich ein Monster ist. Aus diesem Trauma hätte ein spannendes Psychogramm werden können, ein Kampf um Identität, ein Ringen um das richtige Leben und den Umgang mit einer kaum vorstellbaren Situation. Oder ein rasanter Survival-Film, eine archaische Jagd im Wald, ein Aufeinandertreffen zwischen Lehrer und Schülerin. Doch „Das Erwachen der Jägerin“ ist weder das eine noch das andere. Sicherlich gibt es atemberaubende Landschaftsaufnahmen und dann auch wieder Momente purer Paranoia, wenn Helena zwar spürt, dass ihr Vater in ihr Leben eindringt, ihn aber nicht sehen kann. Nur bleibt der Film dabei am Ende allzu unentschlossen.
Das ist übrigens umso bedauerlicher, da die beiden Stars in den Hauptrollen überzeugen: Ben Mendelsohn („The Place Beyond The Pines“) hat in den letzten Jahren ohnehin immer wieder viel Gespür für finstere, ambivalente Figuren bewiesen. Aber auch Daisy Ridley („Chaos Walking“) überzeugt als Frau, die lange Jahre versucht hat, ihre Vergangenheit zu verstecken, ihre Traumata tief in ihrem Inneren zu begraben, aber immer noch damit ringt, ob sie ihren Vater nun liebt oder hasst. Schade, dass diesem Duo nicht ein stärkeres Drehbuch zur Verfügung stand, um aus dieser definitiv ungewöhnlichen und potenziell auch wahnsinnig spannenden Konstellation noch mehr herauszuholen.
Fazit: So eine Vater-Tochter-Beziehung hat man wirklich noch nicht oft gesehen – aber trotz eindrucksvoller Bilder schwankt „Das Erwachen der Jägerin“ allzu unentschlossen zwischen Psychogramm und Survival-Thriller.