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    Im Schatten des Zweifels
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Im Schatten des Zweifels
    Von Ulrich Behrens

    Erst nur ein Hauch, ein zarter, kaum fühlbarer Hauch von Zweifel berührt die Unschuld, das Reine, das fast Unberührbare, das phantastisch Gute. Dann entwickelt sich der nur leicht unangenehm riechende Luftzug zu einem erbärmlich stinkenden Sturm, der in das Leben der jungen Charlie (Teresa Wright) einbricht. Was Charlie Kopfzerbrechen und lange Stunden des Nachdenkens kostete – das Einerlei des gut situierten, freundlichen, sittsamen Alltags, des Anstands par excellence –, die gähnende Langeweile des täglichen Einerleis, die Routine des Durchschnitts, verkehrt sich in ein Trauma, aber nicht eines, das von außen mit aller Macht in die Idylle einbricht und das Paradies zerstört, das nicht nur in Charlies Kopf existiert, sondern an das ihre ganze Familie glaubt. Das Grauen bricht mitten aus ihnen selbst heraus, in der eigenen Familie, auch wenn es mit dem Zug kommt und mit dem Zug wieder geht. Zum Schluss wird nur Charlie seiner gewiss sein. Die Fassade soll bleiben, der Glaube ebenso und die Idylle allemal.

    Charlies Familie ist keine schlechte, Gott bewahre. Sie sind alle auf ihre Weise sympathisch, die Newtons. Vater Joseph, ein Bankangestellter (Henry Travers), der die Ruhe in Person ist und sich mit seinem Nachbarn Herbie (Hume Cronyn) die Freizeit mit der (natürlich nicht ernst gemeinten) Frage vertreibt, wie der eine den anderen am besten ermorden würde, Mama (Patricia Collinge), die mit Küche und Kirche, Hausfrauenbund und ähnlichen Annehmlichkeiten herzlich verbunden ist, die vorlaute, neunmalkluge, aber nichtsdestotrotz intelligente und durchaus witzige kleine Schwester Ann (Edna May Wonacott) und der noch etwas jüngere männliche Spross der Familie Roger (Charles Bates), dem es auf die Nerven geht, als Nesthäkchen behandelt zu werden. Fast könnte man meinen, man befinde sich in „Pleasantville“, jenem amerikanischen Fernsehparadies der 50-er Jahre, in dem der american dream zu sich selbst gefunden zu haben schien: das Paradies und Amerika waren eins geworden.

    Aber Hitchcock wäre nicht Hitchcock, wenn Santa Rosa in Kalifornien und Pleasantville ein und dasselbe wären. Und so bekommt die Familie Newton Besuch von Emmas jüngstem Bruder, Charlie Oakley (Joseph Cotten), einem gut aussehenden und nicht minder gut gekleideten, zuvorkommenden Mann. Charlie liebt Charlie, soll heißen: Nichte Charlie, der bezaubernde Teenager im langen, eng taillierten Kleid und den high heeled shoes, liebt Charlie, den lieben Onkel, den sie gerade angesichts des nervenden Trotts noch herbeigesehnt hatte. Und nun kündigt er sich per Telegramm an, steht am Bahnhof. Der amerikanische Traum scheint perfekt. Aber Onkel Charlie hat etwas zu verbergen. Onkel Charlie ist ein Mörder, ein Lustige-Witwen-Mörder, einer, der reiche Damen, deren Männer im Jenseits weilen, kurzerhand den Hals umdreht, ekelhafte Damen, wie Onkel Charlie meint, die das Geld ihrer verstorbenen Männer verschleudern. Charlie hat sich in seiner Sicht der Welt das Recht zugestanden, zu morden und das Geld einem moralisch höherwertigen Zweck zuzuführen: sich.

    Niemand in der Familie Newton ahnt so etwas. Niemand. Und Onkel Charlie versucht, sich in dem Städtchen Santa Rosa eine Art Fassaden-Existenz aufzubauen, bringt 30.000 Dollar zur Bank, in der Schwager Joseph arbeitet, erklärt sich bereit, vor versammelten Hausfrauen einen Vortrag zu halten. Alles das würde gut gehen, funktionieren, wenn es nicht die Polizei gäbe. Detective Graham (Macdonald Carey) und sein Kollege Saunders (Wallace Ford) sind die Störenfriede, die sich unter dem Vorwand, ein Interview mit der amerikanischen Durchschnittsfamilie Newton führen zu wollen, ins Haus einschleichen. Onkel Charlie und ein anderer Mann stehen im Verdacht, der Witwenmörder zu sein; nur weiß man es nicht genau.

    Das Grauen bricht ein, ein Traum wird zum Alptraum. Nichte Charlie erfährt von Graham, wen die Polizei sucht. Und der Ring, den Onkel Charlie ihr geschenkt hat, wird für die Nichte zur Gewissheit über das Grauen, das mit ihrem Onkel verbunden ist.

    Kaum ein anderer als Alfred Hitchcock brachte es fertig, in einer solchen Klarheit, mit derart einfachen (nicht simplen) Mitteln einen Traum zu zerstören. Vielleicht sollte man besser sagen: Traum und Alptraum als Geschwister vorzuführen. Nicht Onkel Charlie steht im Zentrum dieses Thrillers aus dem Jahr 1943. Im Mittelpunkt steht die Unschuld, der reine Traum, die unbefleckte Phantasie eines Teenagers und die Zerstörung all dessen. Sie wird durch ihren Onkel erwachsen und wird ihr Leben lang nie vergessen, dass es dieses Geschwisterpaar gibt. Der Ring – ein einem seiner Opfer entwendetes Schmuckstück – ist das Symbol für Verrat und Bestechung. Onkel Charlie schenkt ihn seiner Nichte, scheinbares Zeichen seiner Zuneigung, und doch nur Schein, Blendwerk einer Existenz, die ganz anderes verbirgt, verschweigt. Die junge Charlie wird aus ihrem Traum katapultiert, langsam mürbe gemacht – und leistet Widerstand gegen den Einbruch des Grauens und die Bedrohung durch den geliebten Onkel, der sich als Schrecken entpuppt. „Do you know the world is a foul sty?“ sagt der Onkel zur Nichte, „Do you know if you rip the fronts off houses you'd find swine? The world's a hell. What does it matter what happens in it?“ Wenn die Welt eine Hölle ist, was und wen kümmert es dann, was in ihr passiert? Onkel Charlie hat den Alptraum zu seinem Lebensinhalt gemacht. Er gehört zu jener Sorte Menschen, die mit einem enormen Maß an moralischem Anspruch die Unmoral zum legitimen Mittel ihres Daseinskampfes auserkoren haben – wenn auch hier auf einer banalen Ebene als einzelner Verbrecher: Tugend durch Terror.

    Der Ring allerdings wechselt seine Bedeutung. Er wird für Oakley zur Bedrohung, zur Lebensgefahr. Und Hitchcock zaubert das herbei, was die Gefahr bannt, aber den Alptraum nicht beseitigen kann: die Stärke des Gewissens, die innere Kraft, die andere Seite der Unschuld in der Nichte Charlie.

    Hitchcock ist weit davon entfernt, seine Protagonisten zu verurteilen, vielleicht bewundert er sie sogar, die Newtons, vor allem die junge Charlie, irgendwo. Aber Hitchcocks Art der Erlösung ist keine Rückkehr zur Unschuld, zum Paradies. Es ist eine Erlösung, die entweder läutert oder zur Zerstörung führen kann. Onkel Charlie ist ein Mörder, und trotzdem zeigt ihn Hitchcock immer wieder zwischendurch als sympathischen Mann. Diese Welt ist nicht simpel schwarz-weiß, sondern schattiert und grau und bunt und eintönig und vor allem anderen: zweifelhaft.

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