Seinen ersten Aufreger hatte der Dresdner „Tatort: Auge um Auge“ schon zwei Wochen vor seiner TV-Premiere: Einer linksorientierten Berliner Tageszeitung war bei der Vorabsichtung des Krimis aufgefallen, dass in einer Filmsequenz ausgerechnet drei Anhänger der islamfeindlichen PEGIDA-Bewegung einen lebensmüden Rollstuhlfahrer vor dem sicheren Unfalltod bewahren. Dessen launiger Kommentar zu der Aktion war in der Endfassung des Films dem Schnitt zum Opfer gefallen – und so rückten die rechten Retter in ein deutlich positiveres Licht, als es dem federführenden MDR lieb war. Der Sender ließ die Szene kurzerhand nachbearbeiten: Ein Aufnäher mit der Wirmer-Flagge und Sprüche wie „Verkohlt! Geschrödert! Ausgemerkelt!“ wurden digital von den Shirts der PEGIDA-Anhänger entfernt und die politische Note so zumindest an dieser Stelle eliminiert. Sie bleibt allerdings bei weitem nicht die einzige Anspielung auf die Montagsmärsche, den Flüchtlingsstrom von 2015 und die „besorgten Bürger“ Dresdens: Franziska Meletzkys „Tatort: Auge um Auge“ ironisiert eine im „Tatort“ schon häufig erzählte politische Debatte, überzeugt damit aber genauso wenig wie mit dem enttäuschenden Kriminalfall um die zweifelhafte Zahlungsmoral eines großen Versicherungsunternehmens.
„Ihr Partner für Ihre Sicherheit“ – so lautet das Motto der Versicherungsfirma ALVA. In deren gläserner Konzernzentrale in Dresden wird Abteilungsleiter Heiko Gebhardt (Alexander Schubert) von einem Scharfschützen, der sich auf einem Nachbargebäude postiert hat, am hellichten Tag durch das Fenster seines Büros erschossen. Ist der Täter ein verbitterter Kunde, dem man die Zahlung verweigert hat? Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) setzt die Oberkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Henni Sieland (Alwara Höfels) auf den Fall an und verhört Gebhardts Kollegen Rainer Ellgast (Arnd Klawitter), der direkt von dessen Tod profitiert. Gorniak und Sieland, die bei ihren Ermittlungen vom IT-Experten Ingo Mommsen (Leon Ullrich) unterstützt werden, befragen derweil Ines Böhlert (Marie Leuenberger) und ihren Mann Harald (Peter Schneider), der an den Rollstuhl gefesselt ist. Ihnen hat die Versicherung eine Auszahlung verweigert, gemeinsam mit der Aktivistin Martina Scheuring (Henny Reents) demonstriert das Paar direkt vor der Konzernzentrale. Auch die ALVA-Angestellten Cordula Wernicke (Ramona Kunze-Libnow) und Claudia Bischoff (Isabell Polak) rücken ins Visier der Ermittlerinnen: Als Wernicke eine Patrone in ihrer Post findet, ist klar, dass der Täter noch weitere Angestellte im Visier hat...
„Soweit ist es gekommen, du! Jetzt versauen die Türken den Deutschen schon ihre Alibis“, witzelt Gorniak bei der Überprüfung einer Aussage – und spielt damit auf die vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ an, deren Bekämpfung sich die rechte PEGIDA-Bewegung seit jeher auf die Fahnen geschrieben hat. Der Umgang mit diesem seit Jahren kontrovers und hochemotional diskutierten Thema wirkt im „Tatort: Auge um Auge“ aber von Beginn an ziemlich unbeholfen: Zum einen werden die dünnen und nie wirklich komischen „Wir schaffen das!“-Witzchen im Drehbuch von Peter Probst („Endabrechnung“) und Ralf Husmann („Nicht mein Tag“) der Sprengkraft der politischen Debatte, die bekanntlich einen erheblichen Teil zum Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 beigetragen hat, nicht im Ansatz gerecht. Auf der anderen Seite wird künstlich dramatisiert: Vor allem Schnabel gaukelt dem TV-Publikum Zustände vor, die in Dresden so gar nicht (mehr) existieren. „Ich mache mir massiv Sorgen um die Stadt und die Zustände hier“, wettert der „Stromberg“-Verschnitt in einer Szene unverhohlen gegen syrische Einwanderer – fast so, als würden sich Flüchtlinge, „Gutmenschen“ und „besorgte Bürger“ direkt vor seinem Bürofenster die Köpfe einschlagen.
Im 1035. „Tatort“ wird die politische Debatte regelmäßig mit der Brechstange ins Präsidium verlagert: Der latent ausländerfeindliche Schnabel schimpft über Sieland, weil die sich „auf seine Kosten“ für geflüchtete Menschen engagiert, und Sieland schimpft über Schnabel, weil der gedanklich im vergangenen Jahrtausend stehengeblieben sei. Diese nervtötende Schwarz-Weiß-Malerei wird irgendwann selbst Gorniak zuviel, die den willkommenen Ruhepol in diesem Krimi bildet, und lenkt zudem ebenso vom Mordfall ab wie Sielands private Probleme: Spätestens als die Kommissarin mit ihrem Ex-Ex-Freund Ole Herzog (Franz Hartwig) über Couscous und Küsse philosophiert, ist der Bogen deutlich überspannt. Statt der deutlich reizvolleren Geschichte um die Profitgier des Versicherers und dem aussichtslosen Kampf der abgezockten Opfer mehr Tiefgang zu verleihen, verheddern sich die Filmemacher in einem ironisch angehauchten Mischmasch aus platten Stammtischparolen, ermüdenden Grabenkämpfen und einer behauptet wirkenden Beziehungskrise. Gerade im Hinblick auf das Schicksal von Rollstuhlfahrer Harald Böhlert (Peter Schneider) kommt der Krimi über seine guten Ansätze nicht hinaus, und Spannung will hier auch keine aufkommen.
Denn dramaturgisch birgt der fünfte „Tatort“ von Regisseurin Franziska Meletzky („Vorwärts immer!“) ebenfalls Schwächen: Die Auflösung der soliden Whodunit-Konstruktion dürften zwar nur wenige Zuschauer erahnen – das liegt aber in erster Linie daran, dass das Publikum den fix aus dem Hut gezauberten Täter und seine Motive erst in den Schlussminuten wirklich kennenlernen darf. Und dass die Kommissarinnen so spät auf die richtige Spur gelangen, wirkt ebenfalls konstruiert: Hätten sich Gorniak und Sieland bei ihren Besuchen im Konzern etwas mehr Zeit für die Details genommen, statt sich im Präsidium in bemühten One-Linern und zwischenmenschlichen Bankrotterklärungen zu verlieren, wäre der Fall schon nach einer halben Stunde gelöst gewesen. So fällt auch der vierte Einsatz des ersten weiblichen Ermittlerduos in der Geschichte der Krimireihe wenig überzeugend aus – dass der MDR mit der schwarzhumorigen Webserie „Lammerts Leichen“ nun sogar ein „Tatort“-Spin-off mit Gerichtsmediziner Falko Lammert (Peter Trabner) herausgebracht hat, gerät da fast zur Randnotiz. IT-Experte Ingo Mommsen (Leon Ullrich) hätte einen solchen Ableger übrigens genauso verdient – der mausert sich mit seiner treudoofen Art nämlich langsam zum heimlichen Publikumsliebling.
Fazit: Auch Franziska Meletzkys „Tatort: Auge um Auge“ bringt nicht den erhofften Durchbruch: Das Ermittlerteam aus Dresden zählt weiterhin zu den schwächsten der Krimireihe.