Der lustigste Film des Jahres!
Von Oliver KubeDas Buch „Caging Skies“, in dem ein überzeugtes Mitglied der Hitlerjugend herausfindet, dass seine Eltern eine junge Jüdin verstecken, hat Taika Waititi einst auf Anraten seiner Mutter gelesen. Bei Interviews anlässlich der Premiere von „Jojo Rabbit“ gab der Filmemacher dann Jahre später lachend und unumwunden zu, er habe die Inspiration zu seiner umwerfenden Coming-Of-Age-Anti-Kriegs-Satire damals nur etwa bis zur Hälfte geschafft. Das klingt nach Kokettieren, scheint aber wohl der Wahrheit entsprechen, wenn man weiß, dass Christine Leunens‘ Roman eine eher trostlose Charakterstudie ist und sich dann ansieht, was Waititi daraus gemacht hat. Denn selbst wenn zumindest einige Grundpfeiler der Originalgeschichte mit der Filmhandlung übereinstimmen, gibt es in der literarischen Vorlage beispielsweise keinen imaginären Hitler. Zudem erfährt der Protagonist keine emotionale oder moralische Rehabilitation und amüsant oder gar lustig ist an dem Roman ebenfalls rein gar nichts.
Nun mag man deshalb vielleicht denken, dass der exzentrisch-extravertierte Regisseur des bisher wohl ausgeflipptesten MCU-Beitrages („Thor 3: Tag der Entscheidung“) sowie das Mastermind hinter der köstlichen Vampir-Komödie „5 Zimmer Küche Sarg“ so ziemlich die letzte Person hätte sein sollen, die das superernste Nazizeit-Werk für die Leinwand adaptiert. Doch das Ergebnis des Neuseeländers ist – zumindest für den Autor dieses Textes – trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb?) der mit Abstand witzigste und unterhaltsamste Film des Kinojahres 2019 geworden (auch wenn er in Deutschland regulär erst Anfang 2020 in den Kinos startet)!
Jojo und sein bester Freund: ein imaginärer Adolf Hitler.
1945 in einer deutschen Provinzstadt: Jojo Betzler (Roman Griffin Davis) ist zehn Jahre alt und als begeisterter Nachwuchs-Nazi natürlich in der Hitlerjugend engagiert. Sein Vater kämpft angeblich in Italien für die Wehrmacht, doch der Junge hat schon lange nichts mehr von ihm gehört. Kürzlich ist seine ältere Schwester Inge an einem Grippevirus verstorben, weshalb er und seine ihn liebevoll umsorgende Mutter Rosie (Scarlett Johansson) allein im Haus leben. So wirkt es zumindest von außen. Denn Jojo hat einen für andere Menschen unsichtbaren Freund und imaginären Ersatzvater: Adolf Hitler (Taika Waititi) höchstpersönlich, der ihm die oft seltsame Welt der Erwachsenen oder den um ihn herum tobenden Krieg mit platten Klischees, hirnrissigen Parolen sowie rassistischen Scherzen erklärt.
Aber es gibt auch noch einen realen dritten Bewohner des Betzler-Heims: Elsa (Thomasin McKenzie), eine jüdische Klassenkameradin von Inge, die sich auf dem Dachboden versteckt. Als der schockierte Jojo sie durch Zufall entdeckt, will er sofort die Gestapo alarmieren. Elsa erklärt ihm, dass die dann seine Mama ebenfalls mitnehmen würde. Schließlich hat sie das Mädchen vor dem Abtransport in ein KZ gerettet und bei sich untergebracht. Jojo ist verwirrt – einerseits wäre es seine Pflicht, die beiden zu verraten, andererseits liebt er seine Mutter über alles. Zudem entspricht Elsa überhaupt nicht dem, was er bisher über Juden gehört hat...
Das Publikum lernt Jojo (eigentlich Johannes) kennen, als er in Uniform vor dem Spiegel steht und sich auf ein Ausbildungswochenende der Hitlerjugend vorbereitet. Er ist etwas schmächtig geraten, kann seine Schnürsenkel nicht selbst binden und wird von den anderen Jugendlichen als ängstliches Häschen (= Rabbit) gehänselt. Doch dann steht plötzlich der vom Regisseur auf überdrehte, umwerfend komische Weise gespielte Hitler neben ihm und spricht ihm Mut zu (im englischen Originalton mit herrlich bescheuertem deutschen Akzent). Der in voller Montur gekleidete Diktator spornt den Jungen an und sagt ihm, er wäre der „beste, loyalste kleine Nazi“, den er je getroffen habe. Aufgeputscht vom Lob seines Idols stürmt Jojo voller Enthusiasmus, in einer Tour „Heil“ rufend aus dem Haus in Richtung des Trainings-Camps.
Ein großartig funktionierender Start, dem durch Waititis nächste Entscheidung sogar noch die Krone aufgesetzt wird. Wenn er abwechselnd zu den Bildern des die Straße (Drehort: Prag) herunterrennenden, fröhlich salutierenden Jungen und realen schwarz-weißen Archivaufnahmen von Abertausenden jubelnden Kindern und hysterisch kreischenden Frauen bei Paraden oder öffentlichen Reden Hitlers schneidet, bleibt einem das Lachen schnell im Halse stecken. Unterlegt sind diese Szenen mit „Komm gib mir deine Hand“, der 1964 von den Beatles aufgenommenen, deutschsprachigen Version ihres Welthits „I Want To Hold Your Hand“. Nicht „Beatlemania“, sondern „Hitlermania“ also – ein wahrer Geniestreich, der später durch einen ebenfalls cleveren Einsatz von David Bowies „Helden“ („Heroes“) geschickt gespiegelt wird.
Ähnlich wunderbar absurde Momente gibt es zu Hauf im Verlauf der 108 Minuten. Die leben allerdings nicht nur von Waititis originellen Drehbuch-Einfällen, reihenweise zündenden Onelinern und der technisch hervorragend dazu passenden Umsetzung, speziell durch Chef-Kameramann Mihai Malaimare Jr. („Ruhet in Frieden“) und Cutter Tom Eagles („Wo die wilden Menschen jagen“). Der Film versammelt auch ein brillant miteinander harmonierendes, sich bei von Waititi ermutigten Improvisationen die (Dialog-)Bälle virtuos zuwerfendes und die Körperhumor-Einlagen mit vollster Überzeugung spielendes Darsteller-Ensemble.
Der größte Coup im Casting ist dabei Newcomer Roman Griffin Davis. Der so perfekt unschuldig aussehende Sohn von Marvel-Kameramann Ben Davis („Guardians Of The Galaxy“, „Avengers 2: Age Of Ultron“) ist ein veritabler Glücksfall. Sein Zusammenspiel mit der den wohl schwierigsten Part in „Jojo Rabbit“ absolut souverän meisternden Scarlett Johansson („Marriage Story“) sowie Thomasin McKenzie („Leave No Trace“) und vor allem mit dem voll aufdrehenden Waititi ist grandios. Über weite Strecken des Films steht dem jungen Briten noch der hier ebenfalls debütierende Archie Yates („Kevin - Allein zu Haus Reboot“) als sein bester Freund und Schulkamerad Yorki zur Seite, der sich dabei mehrfach als Szenendieb betätigt.
Die versteckte Jüdin Elsa stürzt Jojo in eine tiefe Glaubenskrise.
Dazu kommen Stephen Merchant („Logan - The Wolverine“), der seine Rolle als schmieriger Gestapo-Offizier offensichtlich in vollen Zügen genießt, die einmal mehr auf die ihr ureigene, krasse Art auftrumpfende Rebel Wilson („Isn't It Romantic“) als komplett indoktrinierte HJ-Ausbilderin und Oscar-Preisträger Sam Rockwell („Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“) als ihr direkter Vorgesetzter. Letzterer hat speziell zu Beginn seine besten Einlagen. Aber auch im weiteren Verlauf kann seine Figur, der desillusionierte Hauptmann Klenzendorf, immer wieder abgefahren skurrile, dann teilweise durchaus nachdenklich machende Highlights setzen.
Apropos ernste Momente, die in einem solchen Handlungsrahmen unausweichlich sind: Abgesehen von zwei, drei etwas allzu sehr vorab telegrafierten Gags ist die Comedy „Jojo Rabbit“ so stark, so punktgenau absurd und doch so warmherzig, dass diese Parts, wenn sie dann kommen, beim Zuschauer umso härter ins Kontor schlagen. Waititi gelingt es hier durchgehend, den Zuschauer mitten in all dem Wahnsinn in ein immens tiefes, emotionales Loch zu stürzen, ihn mit den Charakteren ehrliche Tränen vergießen zu lassen und ihn dann mit der nächsten Szene genauso problemlos wieder herauszuziehen.
Ihm ist es geglückt, eine Geschichte mit zwei zerstörten Kindheiten, Rassismus, Faschismus, Krieg und Genozid über weite Strecken locker, leicht und lustig zu gestalten, ohne dass beim Publikum aufgrund seines ausgelassenen Lachens ein schaler Nachgeschmack in Form eines schlechten Gewissens zurückbleibt. So wirkt auch die Entwicklung des Protagonisten komplett glaubhaft. Waititi hat mit „Jojo Rabbit“ einen etwas entfernten, aber mehr als würdigen Verwandten zu Mel Brooks‘ „Frühling für Hitler“, Ernst Lubitsch‘ „Sein oder Nichtsein“ und Charlie Chaplins „Der große Diktator“ geschaffen.
Fazit: Lachen über Hitler? Mit Taika Waititi und seinem exzellent harmonierenden Cast ist das überhaupt kein Problem!