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    Eine moralische Entscheidung
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Eine moralische Entscheidung

    Über die Autos hinaus

    Von Lucas Barwenczik

    Im iranischen Kino ist das Auto oft der letzte Rückzugsort - eine persönliche Schutzkabine gegen den übergriffigen Gottesstaat. Ein kleines Stück Unabhängigkeit. Das ist auch in Vahid Jalilvands Drama „Eine moralische Entscheidung“ nicht anders. Der zweite Film des in Teheran geborenen Regisseurs steht eindeutig in der Tradition seines Nationalkinos: Er bedient sich sowohl bei dem experimentellen Übervater Abbas Kiarostami („Like Someone In Love“), als auch bei dem aktuellen Festivalliebling Asghar Farhadi („Nader und Simin“) und seinen Melodramen. Trotzdem sucht er mit seiner düsteren Geschichte von Schuld und Sühne nach einem eigenen Weg, das zeigen schon die ersten Szenen des Films.

    Denn der beginnt mit einem Autounfall: Der Gerichtsmediziner Kaveh Narmina (Amir Aghaee) wird geschnitten und stößt mit dem Roller einer vierköpfigen Familie zusammen. Zunächst scheint alles in Ordnung zu sein, lediglich der achtjährige Amir ist leicht verletzt. Der Pathologe entschädigt Familienvater Moosa (Navid Mohammadzadeh) großzügig und bietet auch eine Fahrt ins Krankenhaus an. Widerwillig nimmt Moosa das Geld an, verschwindet dann aber in der Nacht. Am nächsten Morgen ist Amir tot. Kaveh hält sich für verantwortlich, seine Kollegin Dr. Sayeh Behabahani (Hediyeh Tehrani) diagnostiziert bei der Obduktion jedoch eine Lebensmittelvergiftung als Todesursache. Soll der angesehene Arzt seinen Zweifeln weiter nachgehen, auch auf das Risiko hin, sich selbst zu belasten?

    Hat sich Arzt Kaveh schuldig gemacht?

    Das ist die „moralische Entscheidung“ des Titels, doch eigentlich ist es nur eine unter vielen. Das Drehbuch eröffnet eine Welt von Aktion und Reaktion, in der jede Tat unvorhersehbare Folgen hat. Jeder Entschluss berührt viele Leben. Die Kamera folgt Moosa und Kaveh auf ihrer parallel verlaufenden Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Beide werden zunehmen obsessiv. Der Mediziner wälzt Bücher und durchforstet das Internet nach möglichen Todesursachen. Der trauernde Vater macht sich auf die Suche nach dem Mann, der ihm möglicherweise verdorbenes Fleisch verkauft hat. Er sucht definitiv kein freundliches Gespräch.

    Auch wenn sie dabei mit den verschiedenen Autoritäten des Landes – mit Richtern, Polizisten oder auch der Krankenhausverwaltung – zusammenstoßen, hält sich der Film mit politischen Botschaften und Slogans eher zurück. Er bleibt überraschend eng an den Figuren und schildert ihre ganz persönlichen Sorgen und Nöte. Moosa etwa fühlt sich in seiner Rolle als Vater und Ehemann gekränkt. Seine Familie lebt am Existenzminimum, nach dem Tod von Amir kann er sich aber nur noch schwer als Beschützer und Ernährer aufspielen. Seine Frau will sich von ihm scheiden lassen. Navid Mohammadzadeh spielt seine zunehmende Verzweiflung wenig subtil, dafür aber ausdrucksstark. Mit jeder Szene wird offensichtlicher, wie sehr er sich in die Enge gedrängt fühlt. Trauer und Wut verstärken einander und beherrschen zunehmend sein Gesicht. Beim Filmfest von Venedig wurde er dafür mit dem Schauspielpreis seiner Sektion ausgezeichnet. Durchaus zu Recht.

    Suche nach Bestrafung

    Auch Amir Aghaee weiß zu überzeugen. Es ist faszinierend dabei zuzusehen, wie verstockt, streng und undurchdringlich er die Rolle des Arztes interpretiert. Die Triebkraft des Dramas ist mehr als nur die reine Frage nach der Schuld. Es ist definitiv kein Krimi und auch kein Thriller. Es gibt sicherlich eine gewisse Grundspannung, vor allem aber entsteht eine Sehnsucht, die Motivation von Kaveh verstehen zu können. Er ist ein schwer durchschaubarer Protagonist, der viel redet und trotzdem wenig von sich preisgibt. Man hat oft den Eindruck, er will vielleicht sogar bestraft werden. Eine unbekannte Schuld scheint auf seinen Schultern zu liegen. Merkwürdig leichtfertig wirft er mit seinem Geld um sich – er zahlt Moosa viel zu viel Geld für den beschädigten Roller, er unterstützt einige seiner Patienten finanziell. Eine Art Ablasshandel, um das Gewissen zu beruhigen?

    Der Zusammenstoß zwischen seinem teuren Auto und dem überladenen Roller in der ersten Szene verdeutlicht auch einen anderen wichtigen Aspekt des Films: Statt wie so oft von den Problemen mit der Theokratie zu erzählen, geht es dem Regisseur offenkundig auch um die verschiedenen Klassen des Landes. Auf der einen Seite der reiche Arzt, auf der anderen der arme Vater, von dem wir nie erfahren, ob er einen Beruf hat. Mittel- und Unterschicht, die allein durch ihren Wohlstand unterschiedliche Möglichkeiten haben. Und weil das iranische Kino so gerne aus und in Autos filmt, wirkt das auch wie ein Seitenhieb an seine Kollegen. Wie eine Aufforderung, auch solche Unterschiede stärker in den Blick zu nehmen. Das passiert bei Vahid Jalilvand vor allem durch Bilder aus unterschiedlichen Lebenswelten: Das klinisch saubere Krankenhaus auf der einen, der Schlachthof, den Moosa mehrmals besucht, auf der anderen Seite. Beide verbindet nur, das Blut fließt. Immer wieder lässt der Regisseur es von Händen und Böden waschen – ein etwas plakatives Motiv für die Schuld.

    Moosa ist sauer...

    „Eine moralische Entscheidung“ ist ohnehin ein schwermütiger Film. Die ganze Filmwelt trägt Trauer. Entsättigte Töne von Grau und Schwarz erwecken den Eindruck eines depressiven Landes. Bunte Farben oder gar das Grün der Proteste von 2009 sind nirgendwo zu entdecken. Viele Bilder liegen im Halbschatten verborgen. Die Handkamera beobachtet die Ereignisse zurückhaltend und fast schon teilnahmslos. Die Inszenierung betont selbst große Gefühlsausbrüche nur wenig zusätzlich. Gelegentlich gibt es vorsichtige Zooms auf ein Gesicht oder eine Fahrt, die den hektisch durch lange Gänge stürmenden Moosa verfolgt. Erst zum Ende des Films hin merkt man, dass die vermeintliche Formlosigkeit nur Teil einer visuellen Strategie war. An entscheidenden Punkten verändern sich Schnitt und Inszenierung plötzlich, um diese deutlich hervorzuheben. Das gelingt, denn gerade diese Momente brennen sich tief in die Erinnerung ein. Die Geschichte hingegen verweigert sich klaren Antworten. Es bleiben nur düstere Bilder und Unsicherheit.

    Fazit: Wer eindeutige Urteile und klare Botschaften sucht, wird enttäuscht – zum Glück. „Eine moralische Entscheidung“ ist ein überzeugendes, ernstes Charakterdrama, das vor allem von seinen Darstellerleistungen lebt.

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