Eine ebenso moderne wie märchenhafte Parabel ist Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“, einer der stärksten Filme im Wettbewerb von Cannes 2018, der sich am Ende allerdings mit dem geteilten Preis für das beste Drehbuch begnügen musste. Mit großer Leichtigkeit und trotzdem stets genau beobachtend erzählt die italienische Regisseurin von einer Gestalt, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Sie nutzt diese Figur eines grundguten Mannes, dem seine Güte nicht bewusst ist, weil er nichts anderes kennt, um zentrale soziale Probleme des heutigen Italien aufzugreifen. Es geht um Migration und Verstädterung sowie den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft, in der sich zwar viel geändert hat, eins aber gleich geblieben ist: Die Ausbeutung der schwächsten Glieder der Gesellschaft.
Irgendwo im ländlichen Italien, zu unbestimmter Zeit: Lazzaro (Adriano Tardiolo) ist Knecht auf einem Hof und eine Art Mädchen für alles. Egal ob die Großmutter ins Haus getragen werden soll, Hühner eingefangen oder Kisten geschleppt werden müssen, stets wird Lazzaro gerufen. So wie er von den anderen Mitgliedern seiner Sippe ausgenutzt wird, was er als ganz normal empfindet, so wird auch die Sippe als Ganzes ausgebeutet: Sie glauben, dass sie noch zur Zeit der Leibeigenschaft leben und ihrer Gräfin gehören. Als dieser Betrug aufgedeckt wird, findet sich die Sippe auf einmal in der Moderne wieder. Vieles ist anders, doch die Grundstrukturen der Gesellschaft bleiben gleich…
Nach „Corpo Celeste“ und „Land der Wunder“ ist „Glücklich wie Lazzaro“ Alice Rohrwachers dritter langer Spielfilm. Sie gibt ihm eine magische, unwirkliche Atmosphäre, indem sie das altmodische Super-16mm-Format verwendet, das den Bildern eine weiche, malerische Kontur verleiht. So etabliert sie eine gleichsam zeitlose Welt, in der erst nach und nach deutliche zeitliche Marker gesetzt werden: Ist es erst ein altmodisches Motorrad, das auf die 70er schließen lässt, folgt bald ein Walkman, der den Gedanken an die 80er nahelegt, bis ein frühes Handy-Modell auf die 90er verweist. Für die Bewohner der abgelegenen Häuser scheint die Zeit dagegen stillzustehen, sie schuften unentwegt und bekommen regelmäßig Besuch von einem Verwalter, der ihre Produkte abholt und mit gelieferten Gütern verrechnet, sodass ihre Schulden nie kleiner werden.
Es ist tatsächlich eine wahre Episode, die Rohrwacher zu ihrem Film inspirierte, die Geschichte einer Gräfin, die auch nach der endgültigen Abschaffung der Leibeigenschaft in Italien 1982 (!) einfach weitermachte als wäre nichts geschehen. Ein Leben außerhalb der Knechtschaft war für ihre „Untertanen“ wohl ebenso wenig vorstellbar wie nun für die Figuren im Film, die kaum begreifen können, wie ihnen geschieht, als die Polizei sie aus ihrem Joch befreit. Der einzige, der von den Ereignissen seltsam unberührt erscheint, ist Lazzaro, der wie sein biblisches Namensvorbild Lazarus stirbt und wieder aufersteht, wie ein gutmütiger Tor mit stets freundlichem Blick durch die Welt geht und alle Bürden gleichmütig erträgt.
Rohrwacher macht sich Lazzaros Blick zu eigen, was ihr ermöglicht, die gesellschaftlichen Ausbeutungsstrukturen, die heute keineswegs verschwunden sind, sondern sich nur verschoben haben, ganz ohne plakatives Anprangern aufzuzeigen und wirken zu lassen. In einer Szene gerät der durch die Stadt stromernde Lazzaro etwa unter eine Gruppe Tagelöhner. Erntehelfer für die Olivenernte werden gesucht und der Vermittler beginnt eine Art Auktion: Vier Euro die Stunde! Wer bietet weniger? Immer weiter unterbieten sich die Arbeitssuchenden, bis der Preis auf einen Euro gefallen ist, ein Hungerlohn, von dem niemand leben kann, aber wen kümmert es? Rohrwachers erzählt ganz beiläufig von all dem, lässt die Geschichte nach der Etablierung ihrer Figuren und der Ausgangssituation einfach laufen. Sie beobachtet Lazzaro und seine Sippschaft, ohne auf rührselige Momente oder sentimentale Zuspitzungen zurückzugreifen, was die Wirkung ihres Films umso stärker macht.
Fazit: Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ ist eine bemerkenswert vielschichtige, ebenso kontrolliert wie poetisch inszenierte sozialkritische Parabel.
Wir haben „Glücklich wie Lazzaro“ bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gesehen, wo er im Wettbewerb um die Goldene Palme gezeigt wurde.