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    Roads
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Roads

    Sebastian Schipper ist kein One-Hit-Wonder

    Von Markus Tschiedert

    Ständig schlecht geschlafen hat Sebastian Schipper, als er sich 2014 vorgenommen hat, einen ganzen Film in einer einzigen Kameraeinstellung zu drehen. „Das kann doch gar nicht funktionieren“, sorgte er sich. Doch das Experiment gelang: „Victoria“ startete ein Jahr später seinen Siegeszug im Wettbewerb der Berlinale und das Thriller-Drama wurde vor allem auch in den USA mächtig abgefeiert. Ein Kultfilm war geboren und selbst eine Oscarnominierung scheiterte wohl nur daran, dass im Film zu mehr als 50 Prozent Englisch gesprochen wird und er deshalb nicht als Bester fremdsprachiger Film in Frage kam.

    Schlaflose Nächte hat Schipper nach eigenem Bekunden aber nun auch sein anschließendes Projekt eingebracht. Diesmal allerdings eher unerwartet, denn „Roads“ sollte ursprünglich ein leichter Sommerfilm über zwei durch Europa tourende Jungs werden. Eigene Jugenderinnerungen wollte der Regisseur dafür heranziehen. Aber das Europa seiner Sturm- und Drangzeit ist nicht mehr das Europa von heute. Weshalb sich ein anderer Film aus dem Ansatz entwickelte. Die jugendlich unschuldige Heiterkeit am Anfang weicht zunehmend der Ernsthaftigkeit der großen Herausforderungen, vor denen unser Kontinent schon seit geraumer Zeit steht. Denn einer der Protagonisten ist illegal aus Afrika eingereist.

    William (Stéphane Bak) und Gyllen (Fionn Whitehead) schlagen sich durch

    William (Stéphane Bak) hat sich vom Kongo bereits bis nach Marokko durchgeschlagen. Der 17-Jährige will seinen großen Bruder finden, der ein letztes Lebenszeichen aus Calais geschickt hatte. Auf einem Parkplatz trifft er auf den gerade volljährig gewordenen Gyllen (Fionn Whitehead). Der junge Brite hat sich im Urlaub von seiner Familie abgeseilt und den Campingbus seines Stiefvaters gleich mitgenommen. Nun will er seinen leiblichen Vater Paul (Ben Chaplin) in Frankreich besuchen. Zwei Menschen, ein Ziel - was liegt da näher, als sich zusammenzutun. Aber wie sollen es William und Gyllen über die spanische Grenze schaffen, wenn dem einen die Einreise verweigert werden würde und der andere keinen Führerschein besitzt? Ein Strohmann am Steuer muss her und der deutsche Hippie Luttger (Moritz Bleibtreu) scheint genau der Richtige für diesen Job zu sein...

    Bis hierhin könnte „Roads“ noch als munterer Teenager-Tumult durchgehen. Wie die beiden Jungs wenig später den sich als hinterhältiger Dieb entpuppenden Luttger austricksen und dabei auch noch einen großen Batzen Haschisch mitgehen lassen, mit dem sie sich zur Belohnung in harmlose Rauschzustände versetzen, ist wirklich witzig inszeniert. Trotzdem glaubt man nicht eine Sekunde, hier in einer waschechten Komödie zu sitzen. Der Regisseur will offensichtlich mehr und die Teenager werden sicherlich noch existenzielleren Situationen ausgesetzt sein. Das spürt man von Anfang an schon allein an der melancholischen Grundstimmung, die diesen Film durchdringt, begleitet von einer nur minimalistisch eingesetzten Musik.

    Moritz Bleibtreu macht seiner Mütze aller Ehre

    Natürlich sind William und Gyllen an der Schwelle zum Erwachsenenwerden auf der Suche nach sich selbst. Wer ist das mit 18 nicht? Aber es geht nicht darum, die Sau rauszulassen, denn dafür sind die beiden Burschen viel zu sensibel. Das manchmal komische, manchmal widerwärtige Macho-Gehabe nimmt allein Moritz Bleibtreu („Nur Gott kann mich richten“) auf seine Kappe, besser gesagt auf seine bescheuert aussehende Reggae-Strickmütze, und drückt dabei mit Sprüchen und Schreiattacken tüchtig auf die Tube. Damit verbleiben alle Sympathiepunkte bei Stéphane Bak („Alone“) und Fionn Whitehead („Dunkirk“). Man ist ihnen emotional ganz nah, nimmt ihnen ihre wachsende Freundschaft bis zum Schluss ab.

    Aber sie wird mehrmals auf die Probe gestellt. Erstmals wenn Gyllen seinen echten Vater trifft, mit ihm in Streit gerät und sogar geschlagen wird. Die Gewalt zeigt Schipper nicht, die Heftigkeit ist dennoch spürbar - durch William, der die Schläge hört und verängstigt aus dem Haus in die Nacht flieht. Sofort versteht man, dieser junge Kerl musste bereits viel Leid im Leben erfahren haben. Eine dramaturgisch einprägsame Szene, die den Zuschauer darauf vorbereitet, was noch kommen wird, wenn beide sich noch einmal zusammentun, um den Bruder von William ausfindig zu machen.

    Das Gefühl der Freiheit ist trügerisch

    Je weiter sie nach Norden kommen, desto mehr verschleiert sich der Himmel in ein ungemütliches Grau. Ein Zeichen, dass der Spaß vorbei ist. Denn nun werden sie konsequent mit der Flüchtlingsproblematik in Frankreich konfrontiert. Sie stoßen auf Migranten, die mehr oder weniger auf der Straße wohnen und von der Essensausgabe weniger Flüchtlingshelfer angewiesen sind. Polizeieinsätze, Fremdenhass – all das lässt Sebastian Schipper nebenbei einfließen. Dass er die reale Flüchtlingssituation an dem Brennpunkt Calais mit der Kamera einfangen will, beschloss der Regisseur erst am Schluss der Dreharbeiten, die bis November 2017 stattfanden. Dennoch will „Roads“, der vormals „Caravan“ heißen sollte, kein Film über die Flüchtlingskrise sein. Schipper beobachtet nur, verliert dabei aber nie seine beiden Hauptfiguren aus dem Blick. Und wie sie versuchen, damit fertig zu werden und trotz Unterschieden zu einem ganz festen Zusammenhalt finden, ist schlichtweg packend und rührend.

    Fazit: Der Titel lässt ein klassisches Roadmovie vermuten, aber „Roads“ ist nicht nur eine berührende Geschichte über Jugend, Freundschaft und Selbstfindung. Ganz ungeplant ist Sebastian Schipper nebenbei auch noch ein wertvoller Beitrag zur Bedeutung Europas gelungen.

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