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    Tides
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tides

    Starkes deutsches Sci-Fi-Kino

    Von Björn Becher

    Fast zehn Jahre ist es schon her, dass Tim Fehlbaum mit seinem Debüt „Hell – Die Sonne wird euch verbrennen“ gezeigt hat, dass man Genre-Kino auch in Deutschland ruhig ein paar Nummern größer denken darf. Wir haben damals bereits prophezeit, dass man von Fehlbaum wohl noch viel hören wird – aber erst jetzt ist es endlich so weit: Nach sehr langer Entwicklungszeit feiert sein zweiter Film „Tides“ nun Weltpremiere im Rahmen der Berlinale 2021.

    „Tides“ ist wie „Hell“ ein Endzeit-Drama, erneut aus Deutschland, wieder unterstützt von Produzent Roland Emmerich, dieses Mal aber mit dem internationalen Markt im Blick in englischer Sprache gedreht. Doch Fehlbaum wiederholt sich nicht, geht vor allem visuell neue Wege und lässt so eine ebenso beeindruckende wie gespenstische Zukunft entstehen. Selbst wenn die Wendungen der Geschichte allesamt wenig überraschend sind, ist das Ergebnis ein spannender Sci-Fi-Film, der auch diesmal wieder einfach verdammt gut aussieht.

    Willkommen im Wattenmeer Erde!

    Als die Erde vor die Hunde ging, haben es die Eliten geschafft, ins All zu fliehen. Doch das neue Leben auf dem Planeten Kepler 209 ist begrenzt. Die dort unfruchtbar gewordene Menschheit kann sich nicht mehr fortpflanzen. Eine erste Mission zur (Wieder-)Erkundung der Erde ist verschollen. Bei einem neuerlichen Versuch legt das Ulysses Project 2 eine Bruchlandung hin. Nach einem Überfall durch einen Stamm von Menschen, die offenbar aller widrigen Bedingungen zum trotz weiter auf der Erde existieren, ist die Astronautin Blake (Nora Arnezeder) bald die einzige Überlebende der Expedition…

    Sie ist überwältigt von dieser Erde, die mittlerweile einem riesigen Wattenmeer gleicht, wo also immer wieder die Flut alles überschwemmt. Zudem gibt es hier Kinder, sogar Babys. Doch bevor Blake das Vertrauen der Stammesführerin Narvik (Sarah-Sofie Boussnina) gewinnen kann, wird der Stamm überfallen. Hinter dem Angriff steckt Gibson (Iain Glen), einer der Astronauten der ersten Mission. Er freut sich über Blakes Ankunft und hat bereits alles für die Rückkehr der Menschen von Kepler vorbereitet. Doch kann sie ihm trauen?

    Vorhersehbar und trotzdem spannend

    Der letzte Satz der Synopsis ist natürlich eine rhetorische Frage. Tim Fehlbaum und seine Co-Autorin Mariko Minoguchi, die 2020 für ihr beeindruckendes Debüt „Mein Ende. Dein Anfang.“ gleich zwei Preise des Verbands der deutschen Filmkritiker gewann, versuchen gar nicht groß, den Zuschauer im Ungewissen zu lassen. Man muss sich nur das brutale Vorgehen von Gibsons rechter Hand Paling (von Joel Basman mit stoisch-sadistischer Miene verkörpert) ansehen, um zu erkennen, dass er garantiert nicht auf der „guten“ Seite steht. Dass Gibson lügt, wird schnell klar. Die Wendungen, die sich daraus ergeben, sind wenig überraschend.

    Das mag den einen oder anderen, gerade wenn man Minoguchis so unorthodoxes Drehbuch zu „Mein Ende. Dein Anfang.“ kennt, dann doch erst mal enttäuschen. Zumal weil das dann doch arg generische Finale gegenüber dem Rest des Films noch einmal abfällt. Aber der vorhersehbare Plot schadet „Tides“ insgesamt erstaunlich wenig – dafür ist die Welt, die Fehlbaum und sein Team hier erschaffen, einfach zu faszinierend. Da stellen sich eben auch direkt eine ganze Menge spannende Fragen, wenn sich die Menschen irgendwie damit arrangieren müssen, dass alle paar Stunden alles von Wellen überflutet wird.

    Blake handelt auf eigene Faust.

    Die Sets, vom sich in kurzer Zeit in Flöße verwandelnden Wattenmeer-Camp der sogenannten Muds bis hin zur Zuflucht auf alten rostigen Tankern von Gibsons Truppe, sind auf eine ganz eigene Weise beeindruckend – und zwar ohne dass der riesige Aufwand besonders herausgestellt wird: Hier wird weder durch aufgesetzte Dialoge noch epische Kameraflüge eine künstliche Imposanz heraufbeschwört. Stattdessen fügen sich die Schauplätze nahtlos in die Erzählung ein. Die vielen Ideen, die sicherlich in das Set geflossen sein müssen, finden in den vielen kleinen Details Ausdruck. Man erahnt sofort, dass sich da jemand wirklich Gedanken gemacht haben muss. Aber erfassen kann man die vielen eingebauten Gimmicks bei einem einmaligen Sehen sicherlich nicht mal ansatzweise.

    Auch die tolle Fotografie steht ganz im Dienst der Zukunftsvision, die hier erschaffen werden soll: Markus Förderer, der nach „Hell“ in Hollywood Karriere gemacht hat und zuletzt sogar den Netflix-Mega-Blockbuster „Red Notice“ mit Dwayne Johnson gefilmt hat, kommt mit seiner Kamera nicht nur den Menschen nah, stattdessen wird sie selbst zu einem Teil der Welt. Das omnipräsente Wasser und die damit einhergehende extrem hohe Luftfeuchtigkeit machen auch vor der Linse nicht halt. Statt sie besonders zu schützen, lassen die Macher zu, dass die Elemente die Sicht beeinträchtigen. Das schafft eine ganz besondere Authentizität.

    Eine starke Hauptfigur

    Großen Anteil daran hat auch Nora Arnezeder („Maniac“). Wenn wir Blake zum ersten Mal sehen, wirkt sie nicht nur geschlechtslos, sondern fast profillos – wie ein androgyner Android. Es gibt auch anschließend wenige überflüssigen Erklärungen (bis auf einige Rückblenden in ihre Kindheit). Stattdessen muss man sich aus dem langsamen Bröckeln ihrer Fassade und den Veränderungen in ihrem Wesen selbst herauslesen, was da wohl aktuell für Zustände auf dem Ersatzplaneten Kepler herrschen.

    Blakes Reise ist der emotionale Anker, der nur im holprigen Finale nicht mehr ganz so fest sitzt. Wir entdecken diese Welt durch ihre Augen – und das in aller Konsequenz: Wenn Gibsons Männer das Camp von Narvik überfallen, verzichtet Fehlbaum auf die ganz große Actionszene. Denn Blake sieht durch ein Gitter im Boden ebenfalls nur kleine Ausschnitte des Kampfes. Zugleich bleiben potenziell spannende Nebengeschichten, etwa Narviks Versuch, ihre Tochter Maila (Bella Bading) zu retten, durch die strikte Konzentration auf eine Hauptfigur aber fast schon zwangsläufig unterentwickelt.

    Fazit: „Tides“ ist ein stark bebildertes und gespieltes Endzeit-Drama aus Deutschland. Hoffentlich müssen wir auf den nächsten Film von Tim Fehlbaum nicht wieder zehn Jahre warten, denn es gibt neben ihm ja kaum einen heimischen Regisseur, der sich an Sci-Fi-Kino in dieser Größenordnung überhaupt heranwagt.

    Wir haben „Tides“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo er als Berlinale Special ins Programm aufgenommen wurde.

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