Mit Johann Strauß‘ unverwüstlichem Walzer „An der schönen blauen Donau“, dem schon Kubricks „2001“ eine seiner denkwürdigsten Sequenzen verdankt, beginnt nun auch Thomas Stubers Drama „In den Gängen“. Dabei ist der Einsatz des vollen Orchesters mit dem Moment synchronisiert, in dem in den Gängen eines Großmarkts der erste Gabelstapler zu sehen ist. Anschließend tanzt ein gutes Dutzend der Arbeitsfahrzeuge förmlich durch das Geschäft. Dieser mitreißende und unerwartete Einstieg gibt die Richtung vor, die der deutsche Regisseur in seinem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag einschlägt: Hier steckt Poesie in jeder Sekunde, in jedem einzelnen Bild, in jedem Ton. Zudem entpuppt sich „In den Gängen“ nicht nur als Fest für die Sinne, sondern auch als Liebeserklärung an die Menschen, die in einem solchen Großmarkt arbeiten. Stuber und sein Co-Autor Clemens Meyer, auf dessen Kurzgeschichte der Film basiert, erzählen dabei einfühlsam und vielschichtig von den Abgehängten in unserer Gesellschaft, von einer zarten Romanze, vom Leben. Der von drei sensationell guten Hauptdarstellern getragene „In den Gängen“ ist schon jetzt einer der besten Filme des Jahres.
Christian (Franz Rogowski) fängt neu in einem Großmarkt an. Er wird erst einmal in die Getränkeabteilung gesteckt, wo Bruno (Peter Kurth) nach eigener Meinung eigentlich keine Unterstützung braucht, aber trotzdem den Frischling unter seine Fittiche nimmt, ihm alle Kniffe zeigt und ihn in die Bedienung des Staplers einweist. In den Pausenräumen und vor allem in den Gängen begegnet Christian immer wieder Marion (Sandra Hüller) aus der Süßwarenabteilung. Sie lächelt ihn an, flirtet mit ihm. Christian ist fasziniert von ihr. Doch von den Kollegen hört er schon, dass er vorsichtig sein soll. Marion ist verheiratet. Und eines Tages ist sie plötzlich nicht mehr da....
Mit unglaublich viel Liebe zum Detail erkundet Thomas Stuber den Mikrokosmos „Großmarkt“. Wenn die Differenzen zwischen den einzelnen Abteilungen beschrieben wird, als handele es sich bei „Getränke“, „Süßwaren“ oder „Waschmittel“ um Länder, die in einer brenzligen Region koexistieren müssen, klingt das unglaublich absurd. Doch wer – wie der Autor dieser Zeilen – schon einmal in einem Großmarkt oder einem Lager gearbeitet hat, weiß, wie viel Wahrheit in diesem alltäglichen Kleinklein steckt – dem Privilegierten, der den Stapler steuern darf, wird da durchaus mit Eifersucht begegnet. Diese Normalität, die zugleich oft zutiefst absurd ist, nutzt Stuber für zahlreiche wunderbar humorige Momente – meist geradezu im Vorbeigehen und ohne viel Aufhebens, aber an passenden Stellen auch mit komödiantischem Nachdruck (wie in einem Einschub mit Szenen des Kult-Kurzfilms „Staplerfahrer Klaus“).
Daneben zelebriert Stuber trotz der kleinen Spötteleien untereinander aber auch den Zusammenhalt der Arbeiter – von Rudi (Andreas Leupold), Wolfgang (Henning Peker), Irina (Ramona Kunze-Libnow), Paletten-Klaus (Michael Specht) und wie sie alle heißen. Sie sind eine große Familie, aber alle auch Außenseiter, von der Gesellschaft mehr oder weniger abgehängt. Am deutlichsten wird dies bei Bruno, dem Herren der Getränkeabteilung. Peter Kurth, der hier nach seiner preisgekrönten Darstellung des Titelhelden in „Herbert“ einmal mehr mit Stuber und Meyer zusammenarbeitet, glänzt dabei weniger durch den unerschrockenen Einsatz seines massigen Körpers (wie zuletzt etwa in „Babylon Berlin“), sondern vor allem durch seine unglaublich vielsagenden Blicke. Stolz und echtes Herzblut stecken in Brunos Arbeit und in seinen Augen, wo sich zuweilen aber auch eine unendliche Traurigkeit widerspiegelt.
Obwohl Franz Rogowskis Christian im Zentrum der Geschichte steht und wir alles durch seine Augen sehen, ist Kurths Bruno der emotionale Anker von „In den Gängen“. Er hält alles zusammen, er setzt das geradezu pathetische Ausrufezeichen, das vielleicht nur zu verdauen ist, weil Stuber mit der Leichtigkeit seiner Erzählung in der ersten Filmhälfte und Kurth mit seinem einnehmenden Spiel uns dorthin geführt haben. Einmal bezeichnet dieser Bruno sich selbst als „Wende-Gewinner“, dabei sind er und die anderen, die in diesem Großmarkt an den Rändern Leipzigs angestellt sind, alles andere als das. So wird ganz beiläufig auch von der nach wie vor existierenden Teilung zwischen Ost und West erzählt, von Menschen, die noch nie in Ibiza waren und stattdessen bei bitterkalten Temperaturen im Hinterhof des Großmarktes „sonnenbaden“.
Hier ist nicht nur Platz für viele humorvolle Details und stimmige soziale Beobachtungen, es gibt auch eine veritable tiefempfundene Romanze. Die Momente zwischen Christian und Marion sind Sonnenstrahlen, wie sie sich sonst im Alltag der Protagonisten, die bei Dunkelheit den Markt betreten und verlassen, nicht finden. Wie so vieles in „In den Gängen“ wird aber auch das gleichsam nebenbei erzählt, wie fast alles, was zur reißerischen Zuspitzung taugen würde: Christians dunkle Vergangenheit, Marions möglicherweise gewalttätiger Ehemann – Stuber begnügt sich mit Andeutungen und setzt diesen Schattenseiten die zärtlich-optimistische Liebesgeschichte entgegen. Sie ist ein Symbol für die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die alle Protagonisten umtreibt. Nicht ganz zufällig ist immer wieder Meeresrauschen auf der Tonspur zu vernehmen, wenn sich Christian und Marion in den Gängen begegnen.
„Toni Erdmann“-Star Sandra Hüller und Franz Rogowski („Transit“, „Victoria“) erfüllen diesen Arbeitsplatzflirt der etwas anderen Art mit Leben. Da die Dialoge oft karg und kurz, lakonisch und teilweise furztrocken sind, findet die wahre Kommunikation zwischen ihnen meist über Gesten und Mimik statt. Mit großartigem Feingefühl veredeln sie dabei scheinbar unbedeutende kleine Momente in pure Kinomagie: Rogowski macht selbst Szenen wie den Anschnitt eines YES-Törtchens oder das Entsorgen einer Zigarette in einer Bierflasche oder der Toilette (schön eingewickelt in Papier) zu einem Ereignis. Mit kleinen Berührungen vermittelt Hüller derweil die Zuneigung, die Marion für dem Kollegen empfindet, lässt aber gleichzeitig die Zerrissenheit ihrer Figur aufblitzen, die ihre Arbeit als willkommene Flucht aus einem kargen und feindseligen Zuhause zu empfinden scheint.
Stubers Inszenierung steht derweil ganz im Dienste der Geschichte und der Schauspieler. Nur selten – wie bei der dynamischen Darstellung von Christians immergleicher Anfangsroutine (Ärmel über die Tattoos, Kulis in die Brusttasche) – steht die Regie im Vordergrund. Ansonsten kann sich das Wesentliche in ruhigen Einstellungen und präzise gewählten Bildausschnitten entfalten - und gerade durch diese Zurückhaltung entfaltet die emotionale Achterbahnfahrt, auf die uns Stuber im späteren Verlauf des Films mitnimmt, ihre ganze Wirkung. Wozu wiederum auch die geschickt aus Stücken verschiedenster Stilrichtungen zusammengestellte Musik sowie die in ihrer poetischen Klarheit bestechenden Aufnahmen von Stubers Stammkameramann Peter Matjasko ihren Beitrag leisten.
Fazit: „In den Gängen“ ist ruhig, poetisch, humorvoll, berührend, niederschmetternd … und vor allem herausragend.
Wir haben „In den Gängen“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.