Vor zwei Jahren hat die schwierige ökonomische Lage in Portugal den Filmemacher Miguel Gomes zu seiner herausragenden „1001 Nacht“-Trilogie inspiriert – ein kühnes sechseinhalbstündiges Mammutwerk, in dem sich theatralische und dokumentarische, naturalistische und surreale, wütende und zauberhafte, politische und private Passagen kongenial ergänzen. Auch die portugiesische Regisseurin Teresa Villaverde („Os Mutantes - Kinder der Nacht“) erzählt in ihrem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Colo“ nun von den Auswirkungen der Rezession in ihrem Land – allerdings auf eine sehr viel intimere und persönlichere Weise: Seitdem der Vater (João Pedro Vaz) seinen Job verloren hat, muss die Mutter (Beatriz Batarda) abends noch einem Zweitjob nachgehen, wobei gerade genug Geld für die Monatskarte der Teenager-Tochter (Alice Albergaria Borges) übrigbleibt. Während die Einrichtung der Hochhauswohnung noch an bessere Zeiten erinnert, steht der Termin für die Abschaltung der Elektrizität bereits fest…
Bis auf den Umstand, dass die drei Protagonisten praktisch nie beim Namen, sondern fast immer nur mit ihrer Familienposition Vater, Mutter oder Tochter angesprochen werden, ist der Stil von „Colo“ zunächst noch durch und durch naturalistisch – eine präzise beobachtete, gemächlich getaktete Schilderung einer ökonomisch angezählten Mittelstandsfamilie. Bekanntes sozialrealistisches Arthouse-Terrain. Aber dann streut die „Trance“-Regisseurin immer mehr Momente ein, die sich eigentlich ein bisschen off anfühlen müssten, über die Villaverde aber hinweggeht, als seien sie keine große Sache - etwa wenn der Vater einer schwangeren Freundin seiner Tochter, die er gerade erst kennengelernt hat, ohne jeden nachvollziehbaren Anlass zusagt, dass er die volle Verantwortung für ihr Kind übernehmen wird. Aus dieser Reibung entwickelt „Colo“ seine ganz eigene Faszination: Vater und Tochter flüchten zunehmend in kleine Odysseen und bleiben zum Teil mehrere Tage von zu Hause weg – in diesen Sequenzen scheint die endgültige Abkehr vom Naturalistischen und die vollständige Hinwendung zu etwas Mythischem, Surrealen oder sogar Geisterhaften nur noch einen Schritt entfernt zu sein. Aber Villaverde ist selbstbewusst genug, diesen letzten Schritt eben nicht zu gehen und hält ihren Film bis zum Schluss in einer reizvollen Schwebe.
Fazit: Teresa Villaverde erzählt subtil von den Verschiebungen im Innenleben einer Familien zu Krisenzeiten und erreicht dabei streckenweise fast schon eine mythische Qualität. Aber wer die spärlich gesetzten Reizpunkte verpasst oder sich nicht auf den eigenwilligen Erzählrhythmus einlassen mag, sollte sich auf eine 135-minütige Geduldsprobe einstellen.
Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2017 gesehen, wo „Colo“ als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wird.