Nachdem er in „Phoenix“ das Holocaust-Drama als Film noir in der Tradition von „Vertigo“ neu gedacht hat, treibt Christian Petzold („Die innere Sicherheit“) das Konzepthafte dieser Arbeit nun endgültig auf die Spitze: Statt seinen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Transit“ während des Zweiten Weltkriegs spielen zu lassen, der Zeit des 1944 erstveröffentlichten Gegenwartsromans von Anna Seghers, verortet Petzold seine Adaption stattdessen im heutigen Frankreich. Nun ist es ja wahrlich keine neue Idee, historische Geschichten in die Jetztzeit zu übersetzen, da wird dann „Hamlet“ auch schon mal vom dänischen Prinzen zum New Yorker CEO der Denmark Corporation. Aber das hier ist etwas anderes, denn Petzold lässt seine Geschichte heute spielen, OHNE die Handlung, die Figuren oder die Dialoge an die veränderten Bedingungen anzupassen. So flieht der Protagonist zwar vor den Faschisten, aber um ihn herum tobt das Pariser Leben des Jahres 2018. Die Flüchtigen werden auch nicht von NS-Schergen in Ledermänteln, sondern von einer französischen Spezialeinheit in modernster Kampfmontur zusammengetrieben. Dieses radikale filmische Spiel mit Zeit und Ort ist lange Zeit schwer faszinierend, bis es immer stärker in den Hintergrund rückt und Petzold stattdessen erneut einen Weltkriegs-Noir inszeniert, diesmal allerdings mit Anklängen an „Casablanca“ statt an Alfred Hitchcock.
Den Deutschen Georg (Franz Rogowski) hat es auf der Flucht vor den Faschisten bis nach Paris verschlagen, wo er für einen Freund zwei Briefe an den ebenfalls flüchtigen Schriftsteller Weidel übergeben soll. Aber als Georg das Hotelzimmer betritt, ist das ganze Bad voller Blut, offenbar hat sich Weidel kurz zuvor das Leben genommen. Auf dem Schreibtisch liegt noch ein Brief von Weidels Frau, die ihn bittet, möglichst bald zu ihr nach Marseille zu kommen, die Visa für die Ausreise würden dort bereits für sie bereitliegen. Georg entscheidet sich, selbst nach Marseille zu reisen und dort unter Weidels Identität bei den entsprechenden Botschaften aufzutreten. Während Georg auf die nötigen Transitvisa wartet, trifft er unter anderem auf einen Arzt (Godehard Giese), der eigentlich schon längst in Mexiko sein wollte, aber nun doch noch warten muss, bis auch seine Freundin Marie (Paula Beer) ihre Papiere beisammen hat…
Die Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen Situation von Flüchtlingen liegen auf der Hand. Aber weit über diese recht simple politische Erkenntnis hinaus erweist sich die Verlagerung der Handlung in ein modernes Setting als wunderbar ergiebiges und vielseitiges Kinoexperiment. Was sorgt eigentlich genau dafür, dass man als Zuschauer vollständig in eine Welt abtauchen kann? Ist es nur die Handlung? Sind es auch die Figuren? Und was ist mit den Kulissen? In „Transit“ ändert sich dieser Grad des Abtauchens oft von Szene zu Szene – und es ist überaus spannend, im Nachhinein zu analysieren, wann der Graben zwischen dem Geschehen und dem Setting für einen ganz persönlich womöglich unüberwindbar groß wurde und wann er sich vielleicht sogar lückenlos schloss. Auf jeden Fall war ich verdammt fasziniert und überrascht, wie sehr es mich trotz des heutigen Settings doch immer wieder aus dem Film herausgerissen hat, wenn über die modernen Schauplätze hinaus plötzlich noch weitere Hinweise auf Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg auftauchen, etwa als im Off-Kommentar (wie im Roman von einem unbekannten Erzähler) offensichtlich auf George A. Romeros Zombie-Klassiker „Dawn Of The Dead“ angespielt wird.
Ein wenig scheint Franz Rogowski („Love Steaks“) sogar so zu gehen, als würde er hier nicht in einer modernen Meta-Erzählung, sondern tatsächlich in einem Schwarzweißfilm aus den 1940ern mitspielen. Während die wiederholten Botschaftsbesuche trotz der Tragik der ganzen Situation auch etwas Komisches irgendwo zwischen Franz Kafka und der Passierschein-Episode aus „Asterix erobert Rom“ an sich haben, entwickelt sich „Transit“ anschließend immer mehr zu einem Noir-Melodram um eine Dreiecksbeziehung, die in Wahrheit eigentlich sogar eine Vierecksbeziehung zwischen drei Menschen und einem Geist ist – und Geister zählen ja nicht nur in „Gespenster“ zu den zentralen Motiven in Petzolds Filmen. Auch weil das finale Drittel zu einem guten Teil in einem Zimmer eines jener Hafenhotels spielt, die heute wahrscheinlich noch ziemlich genauso aussehen wie vor 70 Jahren, nehmen die anachronistischen Störfeuer des Settings im Verlauf des Films immer mehr ab - und obwohl Paula Beer („Bad Bank“) eine veritable Femme Fatale abgibt, kommen die Noir-Elemente in „Transit“ lange nicht an die Intensität des Finales von „Phoenix“ ran.
Fazit: Christian Petzold wendet sich in dieser Phase seiner Regiekarriere offenbar immer mehr dem Konzeptkino zu – und liefert mit „Transit“ erneut ein faszinierendes Filmexperiment.
Wir haben „Transit“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.