Ein Junge verklagt seine Eltern, weil sie ihn geboren haben
Von Antje WesselsCapharnaüm ist ein Fischerdorf am Nordufer des Sees Genezareth. Es war der biblischen Überlieferung nach ein Wohn- und Wirkungsort Jesu und bedeutet dem Wortsinn nach so viel wie „ungeordnete Ansammlung von Objekten“ oder schlicht „Chaos“. Der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki („Wer weiß, wohin?“) diente der Name zudem als Inspiration für ihren gleichnamigen Film, der bei seiner Weltpremiere beim Filmfestival von Cannes mit minutenlangen Standing Ovations bedacht wurde und sowohl den Großen Preis der Jury als auch den Preis der Ökonomischen Jury für den besten Film des Wettbewerbs gewann. Der Libanon schickt „Capernaum - Stadt der Hoffnung“ folgerichtig ins Rennen um den Auslands-Oscar 2019. Die Chancen auf viele weitere Preise stehen sehr gut – und das liegt neben der zugespitzten Prämisse eines Jungen, der seine eigenen Eltern verklagt, weil sie ihn in diese Welt gesetzt haben, vor allem am besonderen Inszenierungsstil der Regisseurin.
Nadine Labaki beschreibt ihren Stil selbst als „der Wahrheit verpflichtet“. Das bedeutet im Fall von „Capernaum“, dass ihr Drama über die prekären Lebensumstände einer libanesischen Großfamilie in vielen Momenten eher dokumentarisch als fiktional anmutet. Kein Wunder: Sie drehte vorwiegend an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern in den Armenvierteln von Beirut. Dazu kommt ein Skript, das zwar auf einer sehr konstruierten Grundidee aufbaut, aber davon abgesehen so gar nicht konstruiert wirkt. Und das zudem auch nie Zeitpunkt unnötig auf die Tränendrüse drückt. So wird aus „Capernaum“ ein authentisches Porträt über die Menschen am Rande der Gesellschaft, die in unserer Welt einfach keine Chance haben.
Der junge Libanese Zain (Zain Al Rafeea) sitzt mit gerade einmal zwölf Jahren im Gefängnis. Er hat offenbar jemanden niedergestochen und verbüßt seine Strafe nun in einer Jugendhaftanstalt in Beirut. Eines Tages sieht er seine Eltern (Kawthar Al Haddad und Fadi Kamel Youssef) vor Gericht wieder. Er selbst hat sie verklagt. Der Grund: Sie haben ihn in diese Welt gesetzt. Nun möchte er verhindern, dass seine Eltern weiterhin Kinder bekommen dürfen. Um den Richter davon zu überzeugen, erzählt er ihm die dramatischen Umstände seiner Existenz. Er erzählt von seiner Großfamilie, die in einer ungepflegten Wohnung im Armenviertel auf wenigen Quadratmetern haust. Er erzählt, wie der Vater eines Tages Zains geliebte Schwester Sahar (Haita Izam) verkauft hat. Er erzählt von seiner Zeit auf der Straße, in der er die illegal in Beirut lebende Rahil (Yordanos Shifera) und ihren kleinen Baby-Sohn Yonas kennengelernt hat. Und er erzählt von den Umständen, die schließlich zu der Messerattacke geführt haben, wegen der er nun im Gefängnis sitzt…
Der Grat zwischen authentischem Drama und kalkuliertem „Armutsporno“ ist sehr, sehr schmal. Nadine Labaki gelingt mit „Capernaum“ das große Kunststück, die Grenze zum Ausbeuterischen und Voyeuristischen nie zu überschreiten. Der Filmemacherin geht es nicht einfach darum, gezielt Mitleid zu erzeugen. Ganz im Gegenteil: Mit ihrer Arbeit will sie in erster Linie ein ganzes System hinterfragen. Und das geht nur, wenn sie alle Ursachen beleuchtet, die zu den Umständen geführt haben, in denen Zain und seine Familie stellvertretend für eine ganze Gesellschaftsschicht im armen Libanon leben müssen.
Die erzählerische Ambivalenz beginnt schon bei der Einführung des Protagonisten. Der gebürtig aus Syrien stammende Zain Al Rafeea verkörpert den Jugendlichen nicht als mitleiderregendes Opfer seiner Lebensumstände. Dieser Zain lebt zwar unter furchtbaren Bedingungen, unter denen er und seine Geschwister keinerlei Chance auf so etwas wie Bildung oder Wohlstand haben. Aber er stiehlt auch, geht bisweilen ziemlich ruppig mit den Menschen in seinem Umfeld um und scheut auch vor kleineren Gewalttaten nicht zurück. Gleichzeitig liebt er seine Schwester Sahar über alles und hilft ihr aufopferungsvoll dabei, die Spuren ihrer ersten Menstruation zu verwischen (die erste Regelblutung würde Sahar als „Frau“ brandmarken und sie somit für eine Heirat mit einem Mann „qualifizieren“). Zaid ist ein Sympathieträger auf den zweiten Blick.
Neben Zain gibt es auch unter den Erwachsenen kaum eine Figur, die sich eindeutig als „gut“ oder „böse“ charakterisieren ließe. Das gilt vor allem für die auf den ersten Blick so verantwortungslosen Eltern, die in größter Not sogar ihre eigene Tochter an einen mehr als doppelt so alten Mann aus der Nachbarschaft verkaufen. Während Mutter und Vater diese Entscheidung zunächst regelrecht gleichgültig zu sein scheint, offenbart sich erst später vor Gericht das ganze Innenleben der Eltern, das aus Selbstvorwürfen, einem Gefühl des Abgehängt-Seins und purer Hilflosigkeit besteht. Das entschuldigt immer noch nicht, seine eigene Tochter verkauft zu haben. Und in vielen Momenten handeln die beiden auch offensichtlich verantwortungslos. Doch „Capernaum“ stellt die Frage nach Tätern und Opfern in einer solch konkreten Form gar nicht.
Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, was alles dafür sorgt, dass es solche Zustände wie im Armenviertel von Beirut überhaupt geben kann. Darunter fallen ein falsch verstandenes Gefühl des „Mannseins“ genauso wie die Abhängigkeit der Armen von den Reichen, willkürlich erscheinende Ein- und Auswanderungsgesetze sowie legitimierter Menschenhandel, um nur eine Handvoll Themen zu nennen, die in „Capernaum“ aufgegriffen werden. Und auch hier gilt wieder: Labaki urteilt nicht, sondern zeigt einfach nur.
Die Regisseurin ist immer ganz nah dran an ihrem jungen Protagonisten. Um die Welt aus seiner Sicht erlebbar zu machen, positioniert sich Kameramann Christopher Aoun („Ismaii“) ähnlich wie sein Kollegen Anthony Dod Mantle bei Angelina Jolies „Der weite Weg der Hoffnung“ immer wieder auf Schulterhöhe der Erwachsenen – also auf Zains Augenhöhe. Aus dieser Perspektive fallen besonders die vielen Kinder auf den Straßen Beiruts auf. Manchmal steht eines einfach nur allein am Straßenrand, ein anderes Mal sieht man in der Ferne eines verloren durch die Gassen laufen. Auf die klassische Aufnahme vom knopfäugig ins Leere starrenden, halbverhungerten Baby verzichtet Labaki dabei. Obwohl es gerade in der Episode, als Zain die alleinerziehende Rahil und ihren kleinen Sohn Yonas kennenlernt, jede Menge Gelegenheiten dazu gegeben hätte.
Ausgerechnet hier erlauben sich die Macher sogar ein wenig Humor und betonen so die tiefe Menschlichkeit der Geschichte. Wenn Zain auf Yonas aufpasst und ihm nach Rahils Verschwinden die Welt zeigt, dann bedient er sich dabei solch unkonventioneller Erziehungsmethoden, dass das trotz seiner permanenten Überforderung immer wieder zum Schmunzeln einlädt. Vor allem aber zeigt es, wie selbst der von seiner Familie vernachlässigte Junge immer noch in der Lage ist, seine Liebe an einen jüngeren Menschen weiterzugeben. Umso herzzerreißender ist es da natürlich, wenn Zain später genau das tut, wofür er seine eigenen Eltern verabscheut.
Durch den fast vollständigen Verzicht auf eine musikalische Untermalung und unter Zuhilfenahme einer von Hand geführten, betont unruhigen Kamera taucht „Capernaum“ mit jeder Szene tiefer in die libanesischen Slums ein. Dabei sind neben der im Mittelpunkt stehenden Geschichte rund um Zain vor allem die im Vorbeigehen eingefangenen Details besonders interessant. An einer Stelle erfährt Zain davon, dass an der Essensausgabestelle auf einem libanesischen Markt nur syrische Flüchtlinge kostenloses Essen erhalten, nicht aber seine weit unterhalb der Armutsgrenze lebenden Landsleute. Auch liefert der Film Einblicke in den schwierigen Arbeits- und Wohnungsmarkt und bewahrt dabei stets das Ansehen der Protagonisten: Als Zain verzweifelt versucht, für wenig Geld essen zu kaufen, bekommt er von Jemandem auf der Straße Essen als Geschenk angeboten, was er aber vehement ablehnt – selbst unter diesen prekären Umständen will der Junge auf keinen Fall seine Würde verlieren.
Fazit: Der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki gelingt mit ihrem an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern gedrehten Drama „Capernaum - Stadt der Hoffnung“ das große Kunststück, von einem Armutsschicksal zu erzählen, ohne dabei in falschverstandene Sentimentalität abzugleiten. Gerade dadurch geht einem das Schicksal des kindlichen Protagonisten ganz besonders zu Herzen.