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    The Prayer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Prayer
    Von Andreas Staben

    Oft geht es in den Filmen des französischen Regisseurs Cédric Kahn wie „Das Zauberflugzeug“ oder zuletzt „Wild Life“ um Familien in der Krise. In seinem neuesten Werk nun, dem Glaubensdrama „The Prayer“, erzählt er nun von einem Protagonisten, der gar keine Verwandten mehr zu haben scheint und in einer christlichen Männer-Gemeinschaft von Ex-Junkies eine neue Familie findet. Dabei stellt der erklärte Agnostiker Kahn sich und uns Goethes Gretchenfrage („Wie hast du’s mit der Religion?“) und zeigt uns den Glauben als mysteriöse, aber unleugbare Kraft. Die größte Stärke des Films ist dabei seine Offenheit: Er lässt sich genauso als fast schon dokumentarische Studie lesen wie als individuelles Drama über das innere Ringen um das richtige Leben. Und er gibt zwar jede Menge Denkanstöße, überlässt die Antworten auf die großen Fragen aber jedem Zuschauer ganz allein.

    Der heroinsüchtige Thomas (Anthony Bajon) ist mit Anfang 20 am Ende. Nach einer fast tödlichen Überdosis sucht er sein Heil in einer katholischen Glaubensgemeinschaft ehemaliger Drogenabhängiger, die in den Bergen ein abgeschiedenes, klosterartiges Leben führt. Dort gibt es kein Fernsehen, Internet oder Telefon, der Alltag besteht fast ausschließlich aus Gebet und Arbeit. Das Zusammenleben ist streng geregelt, sogar Alleinsein ist verboten. Ständig an Thomas‘ Seite ist sein persönlicher Schutzengel Pierre (Damien Chapelle), ein Familienvater, der schon seit mehreren Jahren in der Gemeinschaft lebt. Zunächst kommt der von schweren Entzugsentscheidungen geplagte Neuankömmling gar nicht mit der geforderten Disziplin zurecht, und als er sich wegen einer unerlaubten kurzen Abwesenheit bei der Gruppe entschuldigen soll, bricht sein Widerwille mit Gewalt aus ihm heraus. Er verlässt das Haus, kommt aber zunächst nur bis ins nächstgelegene Dorf. Dort lernt er die gleichaltrige Sybille (Louise Grinberg) kennen, die ihn dazu bringt, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken.

    Der Film beginnt mit der Ankunft des körperlich sichtlich gezeichneten Thomas in den Bergen und Regisseur Kahn lässt ihn dabei etwas verstohlen direkt in die Kamera blicken. Der noch sehr jungenhaft wirkende Protagonist kommt gleichsam als unser aller Stellvertreter in eine für ihn und uns fremde Welt und fortan bleiben wir die ganze Zeit an seiner Seite. Als Vater Luc (Antoine Amblard) dem neuen Gemeinschaftsmitglied die Regeln des Hauses erklärt, sagt er, das Leben dort bestünde aus „Gebet, Arbeit und Freundschaft“, mag man das letztere kaum glauben, denn das Aufnahmeprozedere erinnert stark an das eines Gefängnisses. Alle persönlichen Gegenstände einschließlich der Kleidung, die er unverzüglich ablegen muss („den Slip auch“), werden Thomas genommen, man verpasst ihm eine militärische Fast-Glatze und setzt ihm eine lange Liste restriktiver Regeln vor. Von wegen Freundschaft.

    Thomas ist zunächst ein völliger Fremdkörper, wenn die anderen beten oder mit echter Begeisterung religiöse Lieder schmettern. Außerhalb der religiösen Rituale müht er sich mit Spitzhacke, Schubkarre und Machete mehr schlecht und recht bei der Arbeit auf dem großen Gelände der Gruppe mitten in den Bergen ab (gedreht wurde im Alpental Trièves) und gleichsam nebenbei durchlebt er den Drogenentzug auf die harte Tour. Die starke erzählerische Konzentration auf Thomas lädt dabei nicht nur zur Identifikation ein, sondern gibt dem Film von vornherein auch eine unterschwellige Spannung, indem ein herausgehobenes Individuum auf andere Menschen trifft, die vollständig in der Gemeinsamkeit der Gruppe aufgehen oder zumindest aufzugehen scheinen. Der Graben scheint im ersten Drittel des Films unüberwindlich, zumal es der Regisseur sich und uns nicht leicht macht. Wenn die Männer zur Gitarre singen oder Gebete sprechen, beobachtet er sie ganz nüchtern und ohne jede Emphase. Er zeigt uns oft einzelne Gesichter, aber kaum die Dynamik der Gruppe, macht wenige Schnitte und bewegt die Kamera kaum.

    Anders als etwa in der Dokumentation „Die große Stille“ von Philip Gröning, der mit seinem neuesten Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ übrigens ebenso wie „The Prayer“ im Berlinale-Wettbewerb 2018 vertreten ist, geht es hier weniger darum, in die Abläufe des mönchischen Alltags in all seiner Ereignislosigkeit und Langsamkeit einzutauchen. Hier steht weder die innere Versenkung im Fokus noch ein umfassendes Porträt einer Institution, sondern vor allem die Frage nach dem Miteinander und wie es zu verstehen ist. Das zeigt sich verstärkt, als es zum großen Knall kommt und Thomas offen rebelliert. Die Gemeinschaft erscheint da mal als Selbsthilfegruppe, mal als Glaubensbrüderschaft und mal als multikulturelles Auffangbecken. Oft ist sie auch alles zugleich und wirkt dann fast wie der Entwurf einer Sozialutopie, während Thomas‘ persönliche Reise auf angenehme Weise unvollendet bleibt.

    So etwas wie spirituelle Kraft besitzen bei all dem am ehesten die Arien und Lieder von Gottfried Heinrich Stölzel und Ludwig van Beethoven, die Kahn gelegentlich in Autoradios erklingen lässt und die besonders vor der mächtigen Bergkulisse eine innige Erhabenheit ausstrahlen. Ansonsten steht die distanzierte Erzählweise des Regisseurs den großen Emotionen zwar im Wege, aber seine Unvoreingenommenheit macht sich immer wieder bezahlt. Selbst das Geschehen bei einem mirakulösen Wendepunkt in den Bergen bleibt so auf mindestens zwei ganz verschiedene Arten lesbar, was durch Anthony Bajons („Auguste Rodin“) sparsam-bodenständige Darstellung noch befördert wird: Er überlässt es uns, die Distanz zu überbrücken.

    Dass zwischen frommen Gesten und echtem Glauben mitunter ganze Abgründe klaffen, daran erinnert unterdessen Fassbinder-Ikone Hanna Schygulla („Die Ehe der Maria Braun“) als tief verehrte Schwester Oberin, die Thomas‘ sehr reales, aber etwas theoretisch bleibendes Dilemma mit spirituellem Röntgenblick sofort durchschaut. Ihr Auftritt ist arg theatralisch, aber wirft damit immerhin nebenbei Fragen über die autoritären Strukturen der Kirche auf. So bleibt als größter Schwachpunkt Thomas‘ Freundin Sybille, eine wenig überzeugende Kunstfigur, die einzig über ihre dramaturgische Funktion definiert wird: Sie ist die aufdringlich symbolische Verbindung zur Außenwelt und dient unter anderem in einer sehr unvermittelten Sexszene dazu, den Zuschauer daran zu erinnern, was der Protagonist bei einem Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit und Enthaltsamkeit alles verpasst.

    Fazit: Cédric Kahn stellt in seinem sehenswerten Glaubensdrama „The Prayer“ die Gretchenfrage und lässt alle Antworten offen. 

    Wir haben „The Prayer“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.

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