Als der gelernte Theaterschauspieler Jens Harzer („Same Same But Different“) zuletzt in der beliebtesten deutschen Krimireihe mitwirkte, kam auch dank seiner starken Leistung eine der besten „Tatort“-Folgen des Jahres dabei heraus: Im nicht nur ästhetisch herausragenden Wiesbadener „Tatort: Es lebe der Tod“ bot Harzer 2016 in der Rolle des kühlen Serienmörders Arthur Steinmetz dem gebeutelten LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) erfolgreich die Stirn und drückte dem mitreißenden Krimidrama von Sebastian Marka mit einer tollen Performance nachhaltig seinen Stempel auf. In Vanessa Jopps Berliner „Tatort: Amour fou“ stemmt Harzer nun erneut die wichtigste Nebenrolle: Seine Figur ist diesmal zwar nicht ganz so spektakulär angelegt wie bei seinem vorigen „Tatort“-Auftritt, doch ist es auch das Verdienst des gebürtigen Hessen, dass der fünfte Krimi mit den zwei ungleichen Hauptstadt-Kommissaren Nina Rubin und Robert Karow zugleich einer ihrer besten ist. 14 Jahre nach ihrem ersten (und bis dato einzigen) „Tatort: Der schwarze Troll“ inszeniert Jopp („Vergiss Amerika“) eine stark gespielte und mit authentisch-bissigen Dialogen durchsetzte Geschichte, die mit einem pfiffigen Twist auf der Zielgeraden aufwartet.
Den Hauptkommissaren Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) bietet sich in einem Berliner Laubengarten ein Bild des Grauens: Von Enno Schopper ist nicht mehr übrig geblieben als eine schwarze Masse, die mit einem Plastikstuhl zusammengeschmolzen ist. Wer hat den homosexuellen Lehrer getötet und seine Leiche angezündet? Eine erste Spur führt Rubin und Karow, der sich zu einem One-Night-Stand mit Pathologin Nasrin Reza (Maryam Zaree) hat hinreißen lassen, zum Arbeitsort des Toten: Schopper hat an einer Gesamtschule in Neukölln unterrichtet und wurde dort von den Schülern wegen seiner Vorliebe für Männer offen angefeindet. Schon seit Jahren hatte sich der Ermordete um einen Jungen aus schwierigen Verhältnissen gekümmert: Duran Bolic (Justus Johanssen) war mit seiner Mitschülerin Jasna Nemec (Lisa Vicari) zusammen und ist nun offenbar Hals über Kopf mit seinem kriminellen Vater nach Kroatien durchgebrannt, obwohl er bei Schopper und dessen Mann Armin Berlow (Jens Harzer) ein zweites Zuhause gefunden hatte. Als Berlow vom Tod seines Gatten erfährt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er sucht Trost in den Armen eines anderen Mannes: Robert Karow ...
Bei den ersten vier „Tatort“-Folgen mit Meret Becker („Feuchtgebiete“) und Mark Waschke („Barbara“) wurde parallel zu den aktuellen Ermittlungen auch immer eine zweite Geschichte erzählt: Hauptkommissar Karow suchte hinter dem Rücken seiner Kollegin den Mörder seines früheren Partners und konnte ihn im „Tatort: Dunkelfeld“ endlich zur Strecke bringen. Ab sofort steht den Filmemachern daher mehr Zeit für das Kerngeschehen zur Verfügung, was sich bemerkbar macht: Anders als zum Beispiel im „Tatort: Ätzend“ wird der zentrale Handlungsstrang diesmal nicht von den vielen Nebenhandlungen erdrückt – selbst das ungewohnt harmonische Privatleben von Nina Rubin, die mit ihrem Mann Mann Viktor (Aleksandar Tesla) über einen Umzug in die bayrische Provinz nachdenkt, bereichert die Geschichte diesmal, statt sie einzuengen. Auch für andere Figuren bleibt mehr Entfaltungsraum: Während die aufgeweckte Hospitantin Anna Feil (Carolyn Genzkow) Fleißpünktchen sammelt und die Ermittlungen mit ihren Recherchen entscheidend voranbringt, nähert sich ihr bisexueller Chef dem dringend tatverdächtigen Berlow an, der die mit Abstand spannendste Nebenfigur in diesem überzeugenden „Tatort“ ist.
Das liegt auch am glänzend aufgelegten Jens Harzer, der dem ironisch-charmanten, zugleich aber sehr zerbrechlich wirkenden Berlow eine Ausstrahlung verleiht, der man sich nicht entziehen kann. Der trauernde Witwer ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und lockt Karow mit zweideutigen Kommentaren und einem köstlichen Verweis auf den Woody-Allen-Klassiker „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ aus der Reserve. Geriet die übertrieben betonte Toleranz von Kommissar Freddy Schenk (Dietmar Bär) gegenüber seinem schwulen Assistenten Tobias Reisser (Patrick Abozen) im „Tatort: Tanzmariechen“ noch zur verkrampften Fremdschäm-Nummer, setzen sich Regisseurin Vanessa Jopp (drehte mit Meret Becker bereits 2006 das Sozialdrama „Komm näher“) und Drehbuchautor Christoph Darnstädt („Tschiller: Off Duty“) klischeefrei, zeitgemäß und mit viel Gespür für das Innenleben ihrer Figuren mit den Themen Homosexualität und Männer-Ehe auseinander. Mehr als der kurze, überraschte Blick der Kommissarin bei der ersten Begegnung mit Berlow wäre im bunten Berlin allerdings auch ziemlich realitätsfern gewesen.
Eine kleine Enttäuschung ist der 1023. „Tatort“ aber im Hinblick auf den Schauplatz Neukölln: Viel mehr als den hohen Migrantenanteil an der Gesamtschule des ermordeten Lehrers erfahren wir in diesem Krimi nicht über den sozialen Brennpunkt Rollbergsiedlung – und das, obwohl sich der rbb die realistische Milieuzeichnung in Berlin seit dem Amtsantritt von Becker und Waschke doch ausdrücklich auf die Fahnen geschrieben hat. Die Perspektivlosigkeit der Gesamtschüler mit Migrationshintergrund wird zum Beispiel nur angerissen – so sind der unglücklich verliebte Stipe Rajic (Aaron Hilmer) und sein bester Kumpel Mirko (Ali Orcan) letztlich kaum mehr als aggressive Stereotypen, während dem geflüchteten Duran Bolic (Justus Johanssen) nur wenig Kamerazeit vergönnt ist. Dafür sorgen die Filmemacher auf der Zielgeraden beim Zuschauer für Urlaubsgefühle: Zwei Wochen vor Beginn der „Tatort“-Sommerpause 2017 geben die verträumten Klänge von Charles Trenets „La Mer“, der französische Krimititel und ein paar unauffällig eingeflochtene Bilder der rauschenden Brandungswellen elegante Hinweise auf die clevere Schlusspointe, die das gelungene i-Tüpfelchen auf dieser unterhaltsamen „Tatort“-Folge ist.
Fazit: Vanessa Jopps Berliner „Tatort: Amour fou“ ist ein ebenso überzeugendes wie doppelbödiges Krimidrama mit kleineren Schwächen.