Vor genau zehn Jahren legte Paolo Sorrentino („The Young Pope“) mit „Il Divo – Der Göttliche“ ein Meisterstück vor, in dem er den ebenso legendären wie berüchtigten italienischen Politiker Giulio Andreotti satirisch porträtierte. Toni Servillo spielte damals unter dickem Make-up die Hauptrolle und Servillo ist es nun auch, der in „Loro“ einen weiteren italienischen Politiker verkörpert, und zwar einen Quasi-Nachfolger Andreottis, nämlich den ähnlich berüchtigten Silvio Berlusconi. In zweieinhalb Stunden erzählt Sorrentino diesmal jedoch keine dichte Geschichte von Korruption, Machtmissbrauch und Mafiaverbindungen, sondern reiht oft sensationell gute Szenen aneinander, die in ihren besten Momenten an die stilwütige Epik seines oscarprämierten 5-Sterne-Meisterwerks „La Grande Bellezza - Die große Schönheit“ erinnern, sich aber weniger zu einem runden Film als zu einer Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft am Rand der Lächerlichkeit formen.
Italien, Mitte der 2000er Jahre. Gerade ist die dritte Amtszeit von Silvio (Toni Servillo) als Ministerpräsident zu Ende gegangen, doch der superreiche Unternehmer, Medientycoon und selbst ernannte Playboy arbeitet schon daran, die aktuelle Regierung zu stürzen. Zugleich steigt er möglichst vielen, möglichst jungen Frauen nach. Auch der schmierige Zuhälter Sergio Morra (Riccardo Scamarcio) würde gerne Frauen für Silvio beschaffen. Um in der italienischen Politik Fuß zu fassen und zudem gutdotierte Bauaufträge abzubekommen, hat Morra direkt gegenüber von Silvios Villa auf Sardinien ein mondänes Haus gemietet, wo er Dutzende junge schöne Frauen und noch mehr Drogen hingeschafft hat. Zunächst scheint der Plan zu aufzugehen, Silvio zeigt Interesse am „Angebot“ seines neuen Nachbarn. Aber der Kater für ihn und die Nation scheint unabwendbar…
Nie wird der Name Berlusconi verwendet und auch der Vorname Silvio fällt erst spät. Trotzdem ist sofort klar, wenn zu Beginn des Films alle immer nur von „Er“ und „Ihm“ sprechen, als würden sie es nicht wagen, seinen Namen in den Mund zu nehmen (man muss da schon fast unweigerlich an Voldemort denken). Ob dies aus Angst, Respekt oder Bewunderung geschieht, bleibt offen – und diese Mischung spürt man auch als Zuschauer den ganzen Film hindurch. „Loro“ ist keine spöttische Satire im klassischen Sinne. Stattdessen spürt man immer, wie sehr Silvio ein Fixstern für eine ganze Nation geworden ist. Deshalb macht es auch Sinn, dass sich Sorrentino fast ein Drittel der 145 Minuten seines Films Zeit lässt, bis Silvio das erste Mal auftaucht. Nicht umsonst heißt sein Film nicht „Silvio“, sondern „Loro“, was sich mit „Sie“ oder „Ihre“ übersetzen lässt. Es geht also zumindest auch um die Menschen, die Berlusconi umkreisen, ihn bewundern, so sein wollen wie er. Es geht um „Sie“, die zugelassen haben, dass ein Scharlatan wie Berlusconi nicht nur einmal oder zwei Mal, sondern gleich vier Mal ihr Ministerpräsident wurde. Und auch als Zuschauer ist man vor der Verführung nicht gänzlich gefeit…
Schließlich scheint kaum ein zeitgenössischer Regisseur so gut geeignet, das süße Leben, das Berlusconi und seine Welt so verführerisch machen, auf die Leinwand zu hieven. In langen Partysequenzen suhlt sich Sorrentino im Exzess, inszeniert atemberaubend schöne Menschen, die feiern als gäbe es kein Morgen. Doch spätestens, wenn die ausgelassenen Partys in Berlusconis Villa plötzlich zu grotesken Veranstaltungen mutieren, auf denen Karussell gefahren und Eis gegessen wird, beginnt sich der Kater anzudeuten. Gut zwei Stunden sind in der in den deutschen Kinos gezeigten internationalen Version des Films da schon vergangen. Der Zweiteiler, der im Frühjahr in den italienischen Kinos lief, ist zusammengerechnet noch eine knappe Stunde länger - und auch diese Fassung soll gekürzt gewesen sein, was die Frage aufwirft, ob Sorrentino sein Sujet möglicherweise über den Kopf gewachsen ist oder vielmehr: Was genau will er hier eigentlich erzählen?
Gleichermaßen zu lang und zu kurz wirken nun die zweieinhalb Stunden dieser Fassung, die keinen epischen Bogen schlagen, sondern lose verbundene Szenen aneinanderreihen. Darunter so grandiose wie der Moment, in dem Silvio eines Abends, um sich seiner selbst zu versichern, plötzlich zu einem Telefonbuch greift, um einer wildfremden zufälligen Frau ein Apartment aufzuschwatzen, das sie sich nicht leisten kann und auch überhaupt erst gebaut werden muss. Als genialen Verkäufer mit diabolischem Charme zeichnet Sorrentino hier Berlusconi - man meint gar, einen gewissen Respekt für einen Mann zu verspüren, der alles hat und keine Regeln und Gesetze beachtet. Wie dieser Mann Italien verführte und so noch schlimmeren Populisten den Weg ebnete, ist unterschwelliges Thema eines Films, der zwar keine packende Politstory erzählt, aber eine schonungslose Zustandsbeschreibung der italienischen Gegenwart abliefert – um dann mit einem unerwartet melancholischen Finale noch einmal alles inklusive sich selbst in Frage zu stellen.
Fazit: Vor allem visuell ist auch Paolo Sorrentinos neuer Film wieder mal ein Fest, selbst wenn dem exzessiven Polit-Epos über die erlesenen Bilder hinaus ein wenig der rote Faden fehlt. So ist „Loro“ zwar unheimlich vielschichtig und ambivalent, aber nicht so packend, wie er hätte sein können.