Ein Dorf wird gejagt!
Von Christoph PetersenEs ist inzwischen allgemein anerkannt, dass der 2016 im Wettbewerb von Cannes gefeierte „Aquarius“ nur deshalb nicht von Brasilien für eine Oscarnominierung als Bester fremdsprachiger Film vorgeschlagen wurde, weil sich Regisseur Kleber Mendonça Filho zuvor öffentlich gegen die brasilianische Regierung ausgesprochen hat. Aber seine damals geäußerte Kritik ist nichts im Vergleich zu der unerbittlichen Anklage gegen die (An-die-Wand-)Lenker des Landes, als die sich sein nun ebenfalls im Cannes-Wettbewerb präsentiertes, gemeinsam mit seinem ehemaligen Produktionsdesigner Juliano Dornelles inszeniertes Thriller-Drama „Bacurau“ entpuppt. Wütender und radikaler kann Kino kaum sein – und dann taucht auch noch Leinwandlegende Udo Kier („Dogville“, „Iron Sky 2“) auf, um die Jagd auf das brasilianische Volk nicht länger nur metaphorisch, sondern ganz buchstäblich für eröffnet zu erklären.
Wie im vergangenen Jahr bei Lee Chang-Dongs Meisterwerk „Burning“ dauert es auch bei „Bacurau“ mehr als eine Stunde, bis man als (unbedarfter) Zuschauer mitbekommt, was für eine Art von Film man sich da eigentlich gerade anschaut. Sicherlich sorgen der eröffnende Hinweis, dass „Bacurau“ einige Jahre in der Zukunft spielt, gemeinsam mit der starken ersten Szene, in der ein Lastwagen auf einer Landstraße verstreut liegende Särge kaputtfährt, sofort dafür, dass alles ein bisschen aus der Realität entrückt erscheint. Aber davon abgesehen könnte das erste Drittel auch als anthropologisches Drama durchgehen, in dem das Gemeinschaftsleben, der Zusammenhalt, aber eben auch die akuten Probleme des abgelegenen Dorfes Bacurau und seiner Bewohner erforscht werden.
Teresa und die übrigen Bewohner von Bacurau versuchen auch ohne Wasserversorgung irgendwie durchzuhalten.
Die Regierung hat die Wasserversorgung zum Dorf gekappt, der Bürgermeister der Region schaut nur vor der bald anstehenden Wahl vorbei, um eine Wagenladung halb zerfledderter Bücher und sich als abhängig machende Schmerztabletten entpuppende Medizin als vergiftetes Friedensangebot auf dem Dorfplatz abzuladen. Der Zuschauer erreicht Bacurau unterdessen gemeinsam mit der jungen Frau Teresa (Barbara Colen), die in ihrem Koffer Impfstoffe für die Bewohner geschmuggelt hat. Aber auch wenn es sich zunächst so anfühlt, ist sie genauso wenig die Protagonistin des Films wie die resolute, manchmal zu tief ins Glas schauende Ärztin Domingas (Sônia Braga). Der Held des Films ist vielmehr das Dorf selbst, das sich gegen seine endgültige Auslöschung von der Landkarte stemmt.
Das Fehlen einer offensichtlichen Bezugsperson macht es sicher nicht leichter, einen Zugang zum Dorf und zum Film zu finden – zumal sich in verschiedenen Aspekten des örtlichen (Über-)Lebens derart viele Probleme und Missstände des heutigen Brasilien widerspiegeln, dass man sich mit der aktuellen Situation speziell im Norden des Landes schon sehr gut auskennen muss, um sie wirklich alle erfassen zu können. Aber Spüren kann man dieses Brodeln an allen Ecken und Enden auch so. Bacurau ist ein von den Regisseuren erfundener Fantasieort, in dem sich das trotz des Zukunfts-Settings aber dennoch absolut authentisch anfühlt. Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles haben mit großem Aufwand und noch größerer Präzision ein ganzes glaubhaftes Dorf erschaffen...
... nur um es dann sofort wieder zum Abschuss freizugeben: Denn das die örtlichen Schüler ihr Dorf bei einem Projekt plötzlich nicht mehr auf der Satellitenkarte im Internet entdecken können, ist nur der erste Schritt. In Wahrheit ist „Bacurau“ nämlich ein Update des Horror-Klassikers „Graf Zaroff - Genie des Bösen“ von 1932 (inzwischen besser bekannt unter seinem Originaltitel „The Most Dangerous Game“), in dem ein verrückter Jäger absichtlich einen Schiffbruch herbeiführt, um anschließend Jagd auf die gestrandeten Passagiere machen zu können. In „Bacurau“ ist es nun ein ganzes Dorf, das zum Ziel einer Menschenjagd-Safari auserkoren wurde.
Angeführt wird die überwiegend aus reichen Amerikanern angeführte Jäger-Gruppe von dem schon vor 40 Jahren aus Deutschland in die USA ausgewanderten Michael (ganz stark: Udo Kier). Auch wenn „Bacurau“ mit seiner ersten Hälfte vor allem ein anspruchsvolleres, gut gebildetes Publikum anspricht, machen die Regisseur trotzdem keinerlei Gefangenen, wenn es zum Aufeinandertreffen von Jägern und vermeintlich wehrloser Beute kommt. Schädel werden weggepustet und nach einem Kill wird das so generierte High auch schon mal an Ort und Stelle mit einem Quickie gekrönt. Auch nach diesem erstaunlichen Genrewechsel ist „Bacurau“ aber noch immer vollgestopft mit Anspielungen brasilianische Legenden und soziale Missstände, die das blutige Treiben ab einem bestimmten Punkt allerdings eher ausbremsen, statt ihm noch etwas hinzuzufügen.
Die Jagd auf die Bewohner von Bacarau ist eröffnet!
Trotz all der auf die Leinwand geschmissenen Wut lässt „Bacurau“ letztendlich zumindest ein klein wenig Raum für Hoffnung – und stellt sich damit ganz in die Tradition des Akira-Kurosawa-Klassikers „Die sieben Samurai“. Denn wer die jahrelangen Drangsalierungen der brasilianischen Politik durchgestanden hat, für den sind eben auch eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter, sadistischer US-Spinner im Zweifel nur eine weitere Herausforderung unter vielen.
Fazit: Ein faszinierend-abgründiger Genre-Zwitter, dessen bitterbösen Action-Thriller-Elemente aber vermutlich noch intensiver geraten wären, wenn die Regisseure nicht darauf gepocht hätten, gefühlt jeden einzelnen Missstand in der brasilianischen Gesellschaft noch irgendwie in ihrem Film unterzubringen.
Wir haben „Bucarau“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.