Die schottische Regisseurin Lynne Ramsay ist mit „A Beautiful Day“ in den deutschen Kinos.
USA, heute: Joe (Joaquin Phoenix) ist von schweren Kindheits- wie Kriegserlebnissen traumatisiert und kümmert sich um seine kranke Mutter (Judith Roberts). Er soll die junge Nina (Ekaterina Samsonov), Tochter von Senator Votto (Alex Manette), vor Kinderhändlern retten. Erst spät erkennt Joe, in welche Kreise er hineingeraten ist.
Ramsay nimmt sich von den 89 Minuten Spielzeit reichlich für die Einführung des ruhigen und skrupellosen Hauptcharakters Joe, jedoch nicht zu viel. Der Schottin - auch für das adaptierte Drehbuch verantwortlich - darf vorgeworfen werden, dass alle anderen Rollen flach bleiben. Trotzdem stimmt die Fokussierung auf Joe bis zur letzten Minute. Alle gezeigten Geschehnisse ereignen sich in Joe’s Umfeld, zeigen seine Aktionen und Reaktionen. Der Kinogänger wird zum Beobachter und erhält eine erschütternde wie eingehende Charakterstudie. Das hat zur Folge, dass Joe’s Mutter mehr Leinwandpräsenz bekommt als die anderen Figuren. Und das kann nur bedeuten, dass Ramsay genau weiß, was sie will, wenn sie einen Film kreiert.
Mit übersprudelndem Einfallsreichtum wechseln Perspektiven und Szenenbilder, die auch mal irrleitend sind, aber dadurch umso tiefer in Joe blicken lassen. Eine herrliche Spielwiese für Kameramann Thomas Townend, auf der er sich austobt. Der Brite ist nicht sehr kinofilmerfahren, dem ungeachtet wirkt das Ergebnis berauschend positiv. Er zeigt Flashbacks in die Kindheit und den Krieg, Bilder zu Hämmern, Plastiktüten, Überwachungskameras, Sensibilität und Geradlinigkeit mit ergreifender Nähe. Auslassungen geben dem von Joe Bini perfekt editierten Werk einen besonderen Pfiff, nicht nur bezüglich der expliziten Gewaltdarstellung.
Joe lebt erzwungenerweise inkognito mit seiner Mutter und pflegt ein seltsam ausgeprägtes Sozialverhalten, sogar gegenüber seinen Feinden. Ramsay hat sich dazu, bis hin zu einem Beerdigungsritual, einiges Begeisterndes einfallen lassen; sie entblättert den Unerbittlichen schlüssig weiter und weiter.
Für den Zuschauer wird die nicht sonderlich komplexe, aber fesselnde Story immer mehr zur Nebensache, weil Joe, meisterlich ausgefüllt durch den vielseitigen Joaquin Phoenix, eine ausnehmende Faszination auslöst.
Fans von Thrillern, die sich kinokulturell nicht nur von „Hitman“ und Konsorten ernähren wollen, sollten „A Beautiful Day“ auf keinen Fall verpassen.