Hitchcocks 1956 gedrehter Film „The Wrong Man” fällt im Werk des Regisseurs unter mehreren Gesichtspunkten aus dem Rahmen. Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit – im Unterschied zu allen anderen Hitchcock-Filmen. Hitchcock verzichtete völlig auf die ansonsten in seinen Filmen verwendeten humorvollen Einlagen. Das Thema war Hitchcock offensichtlich zu ernst und es heißt, dass dies seine Ursache vor allem darin habe, dass er selbst – aufgrund eines Ereignisses in seiner Kindheit – eine außergewöhnliche Angst vor dem Eingesperrtsein gehabt habe.
Genau dies ist das Thema von „The Wrong Man”. Ein rechtstreuer, braver Familienvater, der seine Familie – Frau Rose (Vera Miles) und zwei kleine Söhne – mehr schlecht als recht durch seine Arbeit als Musiker über Wasser halten kann, bekommt es eines Tages mit den Tücken des Gesetzes zu tun. Christopher Emmanuel Balestrero (Henry Fonda), den alle Manny nennen, wird verhaftet, weil er mehrere Delikatessengeschäfte und eine Versicherung beraubt haben soll. Zwei Angestellte der Versicherung, bei der Manny die Lebensversicherung seiner Frau beleihen wollte, meinen, ihn als den Mann erkannt zu haben, der sie vor kurzem überfallen hat.
Manny wird vorläufig festgenommen, ihm werden Fingerabdrücke abgenommen und er wird bis zum nächsten Tag, an dem er dem Untersuchungsrichter vorgeführt wird, in eine Zelle gesperrt. Da er nicht vorbestraft ist, setzt der Richter eine Kaution fest: 7.500 Dollar. Sein Schwager Gene Conforti (Nehemiah Persoff) kann das Geld beschaffen. Und ein Anwalt namens Frank O’Connor (Anthony Quayle) will Manny vor Gericht verteidigen. Er macht Manny klar, dass er und Rose beweisen müssen, wo er sich an dem Tag des Überfalls auf die Versicherung aufgehalten hat. Beide waren an diesem Tag in Urlaub, und Manny hatte Karten mit drei Männern gespielt. Doch zwei der drei Männer sind verstorben und der dritte ist nicht aufzufinden.
Das Schlimmste jedoch kommt noch. Rose Balestrero verkraftet die Ereignisse nicht mehr. Sie wird krank und muss in eine Heilanstalt eingewiesen werden.
Obwohl Hitchcock keinen Spielfilm im dokumentarischen Stil drehte, entwickelt sich „The Wrong Man” zu einer eindringlichen Dokumentation des Themas: Wie kann sich ein einzelner gegen die Mühlen des Polizei- und Justizsystems wehren, zumal der Betroffene, ein rechtschaffender Bürger, nie etwas mit der Polizei zu tun hatte und keinerlei Erfahrungen im Umgang mit Polizisten hat. Manny beantwortet alle Fragen von Lt. Bowers (Harold Stone) gewissenhaft und wahrheitsgemäß. Bowers lässt ihn durch die zwei Delikatessen-Läden hindurchgehen, ein Gefühl, das für Manny unerträglich sein muss, so, als ob er schon verurteilt wäre. Erst dann erfolgt eine Gegenüberstellung mit verschiedenen anderen Männern. Wie gelähmt durchschreitet Manny sämtliche Instanzen des Ermittlungsverfahrens bis hin zum Untersuchungsrichter, der die Kaution festsetzt. Die Polizei montiert alles, was sie von Manny weiß und von ihm erfährt und was die (zweifelhaften) Zeugen aussagen, zu einem Konstrukt, das dem Staatsanwalt die Verurteilung leicht machen soll. Gesichtspunkte, die für Manny sprechen, interessieren die Polizisten nicht. Sie lassen ihn einen Zettel schreiben mit den Worten, den der wirkliche Täter den Versicherungsangestellten vorlegte, sie lassen ihn noch einen Zettel schreiben, und Manny macht den gleichen Rechtschreibfehler wie der Täter. Ein weiterer Baustein im Gestrüpp des Ermittlungsverfahrens.
Wer gegen dieses System nicht gewappnet ist, muss verlieren. Das Recht, die Aussage zu verweigern, sich einen Anwalt zu nehmen, das Zustandekommen der Ermittlungsergebnisse zu überprüfen usw. – all das entfällt angesichts der Unerfahrenheit Mannys und seines Entsetzens, das ihn lähmt.
Henry Fonda, versiert in der Darstellung des im wahrsten Sinn dieser Worte aufrechten amerikanischen Durchschnittsbürgers (bis er 1968 in Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod” das genaue Gegenteil dieses Typus verkörperte) war eine Idealbesetzung für die Rolle des Manny Balestrero. Fonda überzeugt durch sein Verhalten, seine Blicke, die immer wieder das blanke Entsetzen, die Hilflosigkeit und die Angst um seine Familie widerspiegeln. Er spielt nicht nur einen Mann, der trotz seiner misslichen finanziellen Situation niemals zu illegalen Mitteln greifen würde, um seine Schulden bezahlen zu können. Im Gegenteil: Er will seiner Frau, die 300 Dollar für eine dringende Zahnbehandlung benötigt, auf legale Weise helfen und ihre Lebensversicherung beleihen. Genau dieses gesetzestreue Verhalten wird ihm zum Verhängnis, weil zwei Angestellte in ihm denjenigen wiederzuerkennen glauben, der die Versicherung beraubt hat. Fonda spielt Manny auch als jemanden, der es gelernt hat, sich freundlich und gefasst zu verhalten. Niemals bricht er aus diesem Verhaltensmuster aus.
Vera Miles als seine Frau Rose lebt in einer Welt wie ihr Mann, in der für sie, Manny und die beiden Söhne Robert und Gregory alles in Ordnung ist, trotz der Schulden von gerade einmal 45 Dollar unbezahlter Rechnungen, weil das Familiensystem zu funktionieren scheint. Sie lieben sich und ihre Söhne. Der Einbruch des Verdachts, der Beschuldigung, der potentiellen Verurteilung bringt dieses System derart durcheinander, dass Rose krank wird. Sie kann die Dinge, die in die Familie eindringen, nicht mehr realistisch beurteilen und verkapselt sich in dem, was man so unschön und sicherlich auch undifferenziert „geistige Umnachtung” nennt. Sie baut einen emotionalen und geistigen Schutzwall um sich herum, sogar gegen ihren Mann, den sie ebenfalls der „anderen” Welt zuordnet. Das Abgesperrtsein in der Anstalt entspricht ihrem inneren Empfinden.
„The Wrong Man” ist einmal ein „anderer” Hitchcock, jedenfalls im anfangs beschriebenen Sinn. Trotzdem ist der Film eben auch typischer Hitchcock. Der Spannungsaufbau entspricht vielleicht nicht dem ansonsten gewohnten Suspense. Er ergibt sich jedoch aus einer schier ausweglos erscheinenden Situation, an deren Ende letztlich nur die Kapitulation vor dem maßgeschneiderten System von Polizei und Justiz stehen kann.
Trotz all dem ließ Hitchcock am Ende des Films einen Schriftzug einmontieren, auf dem zu lesen ist, dass Rose nach einiger Zeit geheilt entlassen werden und die Familie an einem anderen Ort ein neues Leben anfangen konnte. Ich vermute in dieser Einblendung eines der üblichen erzwungenen Zugeständnisse an die Zensur. Dieser Schlussakkord nimmt dem Film viel von seiner Tragik, denn er besagt letztlich, dass es nicht nur immer eine Chance gibt, dem System zu entkommen, was der Wirklichkeit z.B. sog. „Justizirrtümer” sicherlich nicht entspricht, sondern auch, dass in aller Regel ein Unschuldiger irgendwann davon kommt und keine nennenswerten Blessuren bleiben. Selbst wenn der Inhalt dieses Schriftzugs der Wirklichkeit der wirklichen Familie Balestrero entsprechen sollte, verpufft die eigentlich recht harsche Kritik des Films dadurch zu einem großen Teil, und auch, dass es mehr oder weniger nur der Zufall war, dass der wirkliche Täter irgendwann gefasst wurde.