Episches Kino, wie es außer Martin Scorsese heutzutage leider niemand mehr macht!
Von Christoph PetersenNachdem ihm mit der megaunterhaltsamen 3-Stunden-Extravaganz „The Wolf Of Wall Street“ sein erfolgreichster Film überhaupt gelang, legte Martin Scorsese direkt mit seinem nächsten Werk „Silence“ die wohl schmerzhafteste Box-Office-Bruchlandung seiner gesamten Karriere hin. Da stand dann sogar plötzlich ganz allgemein in Frage, ob das Kino eines Martin Scorsese heutzutage überhaupt noch finanziell tragbar ist? Und so schien es dann auch zu kommen: Sobald die Budgets seiner nächsten zwei Filme an der magischen 200-Millionen-Dollar-Marke zu kratzen begannen, bekam das klassische Hollywoodsystem kalte Füße. Stattdessen sprangen erst Netflix für das Mafia-Biopic „The Irishman“ und nun Apple TV+ für das True-Crime-Epos „Killers Of The Flowers Moon“ in die Bresche.
Es entbehrt dabei sicherlich nicht einer gewissen Ironie, dass es nun ausgerechnet die Streaming-Services sind, die es dem Meisterregisseur ermöglichen, weiterhin episch ausgestattetes Schauspieler*innen-Kino mit einem Budget zu verwirklichen, wie es sonst allenfalls Franchise-Blockbuster von MARVEL oder „Star Wars“ zur Verfügung haben. Und gerade im Fall von „Killers Of The Flower Moon“, der auf dem True-Crime-Bestseller „Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter der spektakulärsten Mordserie Amerikas“ von David Grann (» hier bei Amazon*) basiert, kann man als Kinofan wirklich nur sagen: Danke, Apple! Sollen ihn doch all die Abonnent*innen von Apple TV+ ruhig auf ihrem iPhone schauen, solange das heißt, dass es im Jahr 2023 solche seltengewordenen Filme noch auf der großen Leinwand zu erleben gibt.
Kriegsheimkehrer Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) hat vom ersten Moment an viel für seine Kundin Mollie (Lily Gladstone) übrig.
Natürlich hat die US-Regierung dem Stamm der Osage das karge Stück Land für ihr Reservat zugewiesen, weil es die verantwortlichen Politiker für so gut wie wertlos erachtet haben. Aber dann wurden dort gigantische Ölvorkommen entdeckt – und plötzlich waren die Osage die im Schnitt reichsten Menschen des Planeten! Anfang der 1920er Jahre erreicht auch der Kriegsheimkehrer Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) das Reservat, wo er auf die Hilfe seines wohlhabenden Onkels zählen kann: Der Rinderbaron William Hale (Robert De Niro) spricht nicht nur die Sprache der Native Americans, er hat sich auch sonst einen Namen als großer Freund und Unterstützer des Volkes gemacht.
Zunächst schlägt sich Ernest noch als Chauffeur durch, aber dann verguckt er sich in seine Stammkundin Mollie (Lily Gladstone), eine alleinstehende Stammesangehörige, die sich Zuhause um ihre gebrechliche Mutter kümmert. Auch William gibt seinen Segen – erkennt er doch direkt die Chance, dass am Ende womöglich die hochlukrativen Bodenrechte von Mollies gesamter Familie bei Ernest landen könnten. Und tatsächlich: Schon bald sterben Mollies Schwestern wie die Fliegen – und auch sonst nimmt die Zahl der vermeintlich an natürlichen Ursachen verstorbenen oder auch geradeheraus ermordeten Mitglieder des Osage-Volkes schnell schwindelerregende Höhen an…
Beide haben schon oft mit dem Regisseur gedreht – und trotzdem ist dies der erste Scorsese-Spielfilm, in dem Robert De Niro und Leonardo DiCaprio gemeinsam auftreten.
„Killers Of The Flower Moon“ befindet sich bereits seit 2016 in Entwicklung – und hat in dieser langen Zeit offenbar zumindest eine zentrale Wende genommen: Leonardo DiCaprio war ursprünglich nämlich für die Rolle des FBI-Ermittlers Tom White vorgesehen, die im fertigen Film nun von Jesse Plemons verkörpert wird und kaum mehr als 15 Minuten Leinwandzeit bekommt. Natürlich hätte DiCaprio in seiner sechsten Spielfilm-Kollaboration mit Martin Scorsese aber niemals einen derart kleinen Part übernommen – und so lässt sich relativ sicher sagen, dass zunächst einer klassischen Thriller-Struktur folgend die Ermittlungen in den Mordfällen im Zentrum stehen sollten. Stattdessen erleben wir nun aber alles aus der Perspektive von Ernest Burkhart (weshalb DiCaprio dann folgerichtig auch die Rolle gewechselt hat). Einen toughen, cleveren Ermittler – klar hätte der Oscargewinner („The Revenant“) den Part höchstwahrscheinlich weggerockt …
Ab hier enthält die Kritik Spoiler, die zwar nur das erste Drittel betreffen und ohne die man auch nicht wirklich über den Film sprechen kann, aber gerade wer den realen Fall noch gar nicht kennt und völlig ohne Vorkenntnisse in den Film gehen will, sei an dieser Stelle trotzdem gewarnt!
… aber in der Rolle von Ernest Burkhart ist die erneut unbedingt oscarwürdige Performance des „Once Upon A Time… In Hollywood“-Stars nur umso komplexer und faszinierender ausgefallen! Während die Täterfrage in der Sachbuchvorlage, wo die historischen Fakten zuerst noch rund um Mollie, dann später rund um Ermittler White präsentiert werden, noch ein später „Twist“ ist, spielt Martin Scorsese nämlich schon sehr früh mit komplett offenen Karten und enthüllt die Identität der zentralen Beteiligten, ohne auch nur irgendwie eine große Sache daraus zu machen. „Killers Of The Flower Moon“ ist deshalb weder ein Krimi noch ein Thriller, selbst wenn das angesichts der Vorlage durchaus naheliegend gewesen wäre.
Stattdessen liefert uns das „GoodFellas“-Mastermind das niederschmetternde Psychogramm nicht nur einiger Killer, sondern einer ganzen Gesellschaft, die mit dem allergrößten Selbstverständnis und ohne jedes Schuldgefühl meint, sich doch einfach nur das zurückzunehmen, was ihr natur- und gottgegeben ohnehin zusteht. Statt in typischer True-Crime-Manier mitzuraten, wer denn nun wirklich die Täter*innen sind, entpuppt sich „Killers Of The Flower Moon“ vielmehr als ein vom ehrlichen Furor seines Schöpfers getragene Anklage der – vermutlich nicht nur historischen – Umstände.
Mollie (Lily Gladstone) wird immer kränker – und Ernest immer verzweifelter.
Im ersten Drittel kommen wir aber erst einmal mit Ernest gemeinsam im wahnsinnig opulent-aufwendig ausgestatteten Reservat in Oklahoma an – wenn man wie der für „Departed - Unter Feinden“ mit dem Regie-Oscar ausgezeichnete New Yorker schon 200 Millionen Dollar zur Verfügung hat, dann kann man sie auch in ein historisches Autorennen investieren, das gerade in der Stadt stattfindet, einfach nur um die ohnehin schon beeindruckenden Schauwerte des Films noch weiter in die Höhe zu schrauben! Aber dann ist auch ziemlich direkt klar, dass nicht nur – wie von der ersten Szene an ohnehin geahnt – William Hale für die Orchestrierung der Morde verantwortlich ist, sondern auch Ernest persönlich voll mit drinsteckt.
Die Weißen im Film umschwirren die Osage-Angehörigen regelrecht: Den reichen, aber in Gelddingen unerfahrenen Native Americans werden die teuersten Autos angedreht – und wenn ihnen das Benzin ausgeht, sollen sie am besten nicht auftanken, sondern direkt ein neues kaufen. Die Männer suchen sich Osage-Frauen zum Heiraten – denn die werden eh selten älter als 50 Jahre und hinterlassen ihren Witwern dann in der Regel ein gewaltiges Vermögen. Aber das eigentlich Schmerzhafte ist das komplette Selbstverständnis, mit dem die Osage-Stammesmitglieder als reine Verschiebemasse zur eigenen Bereicherung gesehen werden – denn wem all der Reichtum „in Wahrheit“ gehört, das steht für die meisten der weißen Profiteur*innen scheinbar ohnehin außer Frage: Da werden ohne auch nur den geringsten Anflug eines Unrechtbewusstseins selbst Kinder wegen ihrer Bodenrechte adoptiert und direkt vergiftet.
Wo Leonardo DiCaprio eine gewohnt ambivalent-komplexe Leistung (erneut mitsamt tiefem Akzent) liefert, da Ernest seine Frau eben wirklich liebt und ihm scheinbar die Tragweite seines Handelns auch überhaupt nicht so recht klar zu sein scheint, ist Robert De Niro als William Hale derart abgeklärt-diabolisch, dass bei der Weltpremiere in Cannes mehrfach laut gelacht wurde, weil die Nonchalance seiner eiskalt-finsteren Intrigen in den besten Momenten durchaus schon eine dunkelschwarze Komik entfaltet. Wenn dann nach mehr als zwei Stunden schließlich doch noch der ursprünglich als Hauptfigur vorgesehene FBI-Agent Tom White bei Mollie und Ernest auf der Matte steht, gibt es eigentlich nicht mehr groß was zu ermitteln …
… und auch beim abschließenden Gerichtsprozess freut man sich zwar über die beiden prägnanten Anwalts-Kurzauftritte von John Lithgow und Brendan Fraser, aber so richtig was zu Enthüllen gibt es eigentlich gar nicht mehr. So wirken die finalen 45 Minuten von „Killers Of The Flower Moon“ ein wenig wie ein pflichtbewusster Nachklapp – ganz im Gegenteil übrigens zu dem im True-Crime-Genre üblichen Nachliefern der Fakten, wie es mit den beteiligten Personen denn nach Abschluss des Prozesses noch so weitergegangen ist: Für diese „Pflichtaufgabe“ hat sich Martin Scorsese nämlich einen wahrhaft brillanten Kniff einfallen lassen, der einen selbst nach fast dreieinhalb abgründig-düsteren Stunden noch einmal mit seiner schieren inszenatorischen Pfiffigkeit tief begeistert.
Fazit: „Killers Of The Flower Moon“ ist ein superdüsteres, hundsgemeines, wütend machendes True-Crime-Drama, mit gewaltigem Aufwand und visueller Bravour inszeniert sowie von durch die Bank grandiosen Schauspielleistungen getragen – sprich: Hier ist längst nicht nur die Laufzeit von fast dreieinhalb Stunden absolut episch, weshalb nur zu hoffen bleibt, dass mehr Menschen als bei „The Irishman“ die Chance wahrnehmen werden, dieses meisterhafte Monumentalwerk bei seinem Kinostart auf der großen Leinwand zu sehen, bevor er dann voraussichtlich schon kurze Zeit später im Abo-Angebot von Apple TV+ landen wird.
Wir haben „Killers Of The Flower Moon“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen.
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