Schon ziemlich heruntergekommen, aber irgendwie auch kitschig schön: in der Ecke einsame alte Männer, an den Billardtischen stolze junge Roma – als Patric Chiha („Boys Like Us“) eines Abends in der Stricherbar „Rüdiger“ im Wiener Arbeiterbezirk Margareten strandete, wusste er sofort, dass er sein neues Projekt gefunden hat. Allerdings wollte der österreichische Regisseur nicht einfach einen Film über die jungen Bulgaren machen, die sich hier ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit teuer erkaufen, indem sie mit Männern Sex haben, obwohl die meisten von ihnen eigentlich auf Frauen stehen. Stattdessen hat Chiha den Dokumentarfilm „Brüder der Nacht“ gemeinsam mit seinen Protagonisten gemacht – und so finden sich darin nun eine ganze Reihe inszenierter Momente, in denen die Stricherjungen fern der Heimat ihr eigenes Schicksal verarbeiten. Das wirkt dann theaterhaft-überhöht, traumhaft-verrucht oder zärtlich-surreal – ist deshalb aber kein bisschen weniger wahrhaftig als eine herkömmliche Dokumentation und dabei viel schöner anzusehen.
Sowieso ist es neben der zauberhaften Inszenierung vor allem die unbedingte Offenheit der attraktiven jungen Männer (die Chiha nicht zu Unrecht mit den gebrochenen Helden aus den Filmen von Pier Paolo Pasolini vergleicht), die „Brüder der Nacht“ zu etwas ganz Besonderem macht – und damit meinen wir nicht nur die unverblümten Gespräche über abseitige Kundenwünsche und die dafür eingestrichenen Summen. In Bulgarien haben die meisten von ihnen schon sehr jung geheiratet und eine Familie gegründet – zu Hause warten also neben ökonomischen auch familiäre Zwänge. In Wien müssen sie hingegen zwar ihren Körper verkaufen, aber können auch zum ersten Mal in ihrem Leben wild, frei und verantwortungslos handeln – und so geben viele einen guten Teil des auf dem Strich verdienten Geldes absurderweise direkt wieder für Prostituierte aus. Das Wiener Nachtleben erscheint ihnen trotz der abstoßenden Körper ihrer Kunden wie die Erfüllung eines Traums; allerdings eines äußerst brüchigen, denn irgendwann gehen selbst die Partys im „Rüdiger“ mal zu Ende.
Fazit: Ein durch und durch ehrlicher, zugleich aber auch magisch entrückter Film – hätte Rainer Werner Fassbinder eine Dokumentation über Wiener Stricherjungen gedreht, würde sie wohl so ähnlich aussehen wie „Brüder der Nacht“.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.