Zu Beginn bewegt sich der Schweizer Tobias Nölle mit seinem Langfilmdebüt „Aloys“, das gerade im Panorama der Berlinale 2016 seine Weltpremiere feierte, auf den Spuren der großen Paranoia-Klassiker der 1970er Jahre – von Francis Ford Coppolas „Der Dialog“ bis zu Roman Polanskis „Der Mieter“. Mit vermeintlich simplen inszenatorischen Mitteln beschwört der für seine Kurzfilme bereits vielfach international ausgezeichnete Regisseur eine surreal-fesselnde Atmosphäre herauf, wobei es oft nur kleine Details sind, die irgendwie falsch wirken und die filmische Realität deshalb so brüchig erscheinen lassen. So sitzt Aloys (gewohnt großartig: Georg Friedrich) zum Beispiel immer auf dem Beifahrersitz, wenn er allein im Auto sein Pausenbrot isst - und wenn er sich am Telefon seiner Privatdetektei meldet, dann spricht er von sich selbst nur in der ersten Person Plural: „Wir kümmern uns!“ Nach und nach verstehen wir, dass das mit seinem kürzlich verstorbenen, alle Bereiche seines Lebens dominierenden Vater zu tun hat, ohne dessen Anleitung der labile Aloys zunehmend den Halt zu verlieren droht. Als ihm eines Nachts im Bus auch noch ein Koffer mit Überwachungsbändern gestohlen wird und sich daraufhin am nächsten Tag eine mysteriöse Frauenstimme bei ihm meldet, wird aus dem berufsmäßigen Voyeur endgültig selbst ein Getriebener …
Nach dem starken Auftakt wird aus dem Thriller-Drama schließlich eine magisch-realistische Romanze, so etwas wie eine weit weniger farbenfrohe Variante von „The Science Of Sleep“: Aloys lernt von der Anruferin das Prinzip des Telefonwanderers, eine von einem japanischen Neurologen entwickelte Technik, mit der man sich mit Hilfe der Geräusche am Telefon in eine Fantasiewelt versetzen kann. Spätestens ab diesem Punkt ist „Aloys“ eine Art Plattenbau-Geisterfilm, denn es geht fast immer nur um die Abwesenden – den toten Vater oder Aloys‘ imaginierte Freunde, die er trotz vorsichtigen Ausbruchsversuchen aus seiner Isolation dann doch den wahren Menschen vorzieht. Allerdings fehlen der zweiten Filmhälfte fast völlig die starken Kinobilder der ersten. Es gibt sogar eine weiße Gardine, die in Zeitlupe im Wind flattert – eine Metapher, die spätestens seit der Plastiktütensequenz aus „American Beauty“ auf der schwarzen Liste stehen sollte. Zudem zeigt sich in den imaginären Partyszenen erstmals das limitierte Budget der Produktion – denn die wirken ziemlich provinziell. So macht sich der Film auf der Schlussgeraden gleichsam selbst klein. Wenn wir die Wahl hätten, würden wir Regisseur Nölle als nächstes sofort einen waschechten Thriller inszenieren lassen: als deutsche Antwort auf Coppola und Polanski ist „Aloys“ vielversprechend, als verträumt-verkopfter Arthouse-Liebesfilm nach Art von Jean-Pierre Jeunet oder Michel Gondry eher ein Flop.
Fazit: Erst faszinierender Paranoia-Thriller, dann weniger überzeugende Psychosen-Romanze.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.