Erst der futuristische Stuttgarter „Tatort: HAL“, dann der (w)irre Bremer „Tatort: Echolot“ und zuletzt der kurzweilige Münchner „Polizeiruf 110: Schattenwelt“: In der zweiten Jahreshälfte 2016 waren totale Überwachung und Big Data in den Sonntagabendkrimis der ARD die Themen schlechthin. Und das Jahr ist bekanntlich noch nicht vorbei: Nun wirft nämlich auch der Hessische Rundfunk mit dem thematisch ähnlich gelagerten Frankfurter „Tatort: Wendehammer“ seinen Hut ins Rennen. Und wie so oft in den Beiträgen aus Hessen werden die ungeschriebenen „Tatort“-Gesetze auch unter Regie von Markus Imboden („Der Verdingbub“) einer Belastungsprobe unterzogen: Die Drehbuchautoren Stephan Brüggenthies und Andrea Heller brechen fleißig mit den Konventionen der Krimireihe und setzen dabei einen für Frankfurter Verhältnisse ungewohnt humorvollen Akzent. Das Ergebnis ist aber nur teilweise überzeugend: Trotz vieler gelungener Pointen wirkt die Rahmenhandlung um die Gefahren der digitalen Vernetzung am Ende überambitioniert.
In einem Frankfurter Wendehammer hat sich offenbar ein Verbrechen abgespielt: Der rüstige Rentner Gerd Abendroth (Joachim Bißmeier) ist wie vom Erdboden verschwunden. Seine Nachbarin Betti Graf (Cornelia Froboess) macht sich große Sorgen – schließlich würde Abendroth nie ihren obligatorischen Rommé-Termin am Mittwochabend platzen lassen, ohne rechtzeitig abzusagen. Die Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) untersuchen mit Kriminaltechniker Uhlich (Sascha Nathan) die Wohnung des Vermissten und finden darin Blutspuren: Wurde Abendroth ermordet und seine Leiche beiseite geschafft? Der Reihe nach vernehmen die Frankfurter Ermittler die Nachbarn – die divenhafte Sängerin Olga (Susanne Schäfer), das Ehepaar Hark (Christoph Luser) und Ulla Vogt (Lisa Hagmeister) – und vor allem den paranoiden Nils Engels (Jan Krauter), der sich in seinem Haus mit High-Tech-Sicherheitsanlagen und Elektrozäunen von der Außenwelt abschottet. Engels ist erfolgreicher IT-Unternehmer und hat mit seinem Geschäftspartner Daniel Kaufmann (Constantin von Jascheroff) einen Algorithmus entwickelt, um den er selbst im Silicon Valley beneidet wird...
Tiefgefrorene Katzen in der Kühltruhe, kläffende Opernsängerinnen und hinterlistige Attacken mit dem Laubsauger: Der vierte Fall von Anna Janneke und Paul Brix gehört zum Schrägsten, was die Krimireihe in den letzten Jahren erlebt hat und dürfte viele Zuschauer, die sich auf einen realitätsnahen Whodunit zum Miträtseln gefreut haben, schon in den ersten Minuten auf die Palme bringen. Einmal mehr macht es sich der Hessische Rundfunk, der mit den eigenwilligen Beiträgen aus Wiesbaden ein hochkarätiges zweites „Tatort“-Eisen im Feuer hat, nämlich zur Aufgabe, die Grenzen der Reihe auszutesten: Diesmal fehlt es dem Film nicht nur an der obligatorischen Auftaktleiche, sondern auch an einem ernsthaften Ansatz, wie man ihn im „Tatort“ normalerweise gewöhnt ist (von den populären Beiträgen aus Münster und Weimar einmal abgesehen). Nach dem starken Psychothriller „Tatort: Die Geschichte vom bösen Friederich“ gibt es in Frankfurt diesmal das totale Kontrastprogramm: „Wendehammer“ ist eher eine muntere Satire als ein packender Krimi, punktet aber mit köstlicher Situationskomik, hervorragendem Timing und einem halben Dutzend skurriler Charaktere, die bis ins Karikatureske überzeichnet werden.
Eine alleinstehende Krimi-Autorin, die die Ermittler mit ihren Theorien zum möglichen Tathergang nervt, eine eingebildete Opernsängerin, die ihr Eigenheim mit unzähligen Bildern von sich selbst zukleistert, und nicht zuletzt der von schlimmen Ängsten gepeinigte IT-Freak, der auf den nächsten Stuhl springt, wenn sich ein Hund zu nah heranwagt: Im 1003. „Tatort“ geben sich die schrägen Figuren die Klinke in die Hand und stürzen die verdutzten Kommissare bei den Befragungen im titelgebenden Wendehammer von einer Verlegenheit in die nächste. Die erste Filmhälfte entwickelt sich zu einem Feuerwerk bizarrer Situationskomik, das sich bis in die seltsam ausgestorbenen Büroräume im Polizeipräsidium ausdehnt, wenn Chef Henning Riefenstahl (Roeland Wiesnekker) eine bemerkenswerte Akribie bei der Auswahl der passenden Glühbirne für seine Bürolampe an den Tag legt. Der augenzwinkernde Ansatz und der subtile Humor ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film – erst nach einer guten Stunde und zwei gelungenen Twists weichen die Drehbuchautoren Stephan Brüggenthies und Andrea Heller vom bis dato eingeschlagenen Kurs ab und widmen sich schließlich ausführlich ihrem übergeordneten Thema Big Data.
Hier versandet ihr „Tatort“ dank der eher kruden Rahmenhandlung dann allerdings in der Beliebigkeit: Totale Überwachung, massenhafte Datenerhebung und die Gefahren der Digitalisierung wurden in den letzten Monaten schon mehrfach in der Krimireihe thematisiert und gehören bei den Autoren momentan offenbar so fest zum Inventar wie Flüchtlinge, Rechtspopulisten oder fiese Störenfriede einer übergeordneten Behörde. Spätestens wenn nach einem großen Datencrash in ganz „Mainhattan“ der Strom ausfällt und die Kommissare im Dunkeln ermitteln müssen, überspannen die Filmemacher den Bogen – das enttäuschende Schlussdrittel wird auch durch die gelungene Schlusspointe, die die Gefahren der totalen Vernetzung zynisch auf den Punkt bringt, kaum noch aufgewertet. Deutlich positiver in Erinnerung bleibt da der kultige „Pulp Fiction“-Tanz, bei dem Janneke in bester Uma-Thurman-Manier auf der Geburtstagsparty von Brix‘ Mitbewohnerin Fanny (Zazie de Paris) eine heiße Sohle aufs Parkett legt. So steht unter dem Strich ein unterhaltsamer, am Ende aber nicht ganz überzeugender Frankfurter „Tatort“, dessen Figuren weitaus sehenswerter sind als die zum x-ten Mal erzählte Big-Data-Geschichte.
Fazit: Markus Imbodens „Tatort: Wendehammer“ ist eine überraschend humorvolle, aber nicht vollständig überzeugende Krimikomödie, bei der die Grenzen der Reihe fleißig ausgetestet werden.