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    Tiger Girl
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tiger Girl
    Von Andreas Staben

    Sie sind zu dritt unterwegs und haben einen schlaksigen jungen Mann auf dem Kieker – wahrscheinlich ein Student. Das Trio quatscht den Typen an und schubst ihn ein bisschen herum: Gleich gibt’s was aufs Maul! Doch der Bedrängte sieht das gar nicht ein. Er findet das „echt nicht ok“, wie sich Maggie und ihre beiden Kollegen verhalten. In einer Mischung aus Trotz, Wagemut und Lebensmüdigkeit fordert der Mann, Maggie dann aber auch eine verpassen zu dürfen…  In dieser verblüffenden Straßenszene aus Jakob Lass‘ experimenteller Polit-Martial-Arts-Tragikomödie „Tiger Girl“ prallen die Gegensätze so unerwartet wie wirkungsvoll aufeinander: Wut und Witz, Kontrolle und Improvisation, Anarchie und Spießigkeit. Nach dem Erfolg seiner vorigen Arbeit „Love Steaks“, einem Studentenprojekt, das am Ende sogar für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde, zündet der junge Regisseur eine weitere Kino-Wunderkerze und lässt für 90 energiegeladene und mitreißende Minuten die Funken fliegen.

    Maggie (Maria Dragus) möchte auf die Polizeischule. Als Grund für ihren Berufswunsch gibt sie an, Leuten helfen zu wollen. Doch dann rasselt sie durch die Aufnahmeprüfung - und ein erneuter Anlauf ist erst ein halbes Jahr später möglich. Also besucht sie stattdessen erstmal einen Ausbildungslehrgang zur Security-Fachkraft. Dort hält der Kursleiter zunächst auch große Stücke auf sie, aber schon bald hat Maggie ganz andere Dinge im Kopf: Als sie in einer U-Bahnstation von gleich drei Schlägern angegriffen wird, eilt ihr die selbstbewusste Tiger (Ella Rumpf) zur Hilfe, die in einem ausrangierten Bus auf einem Parkplatz hausiert. Die beiden jungen Frauen freunden sich an, ziehen gemeinsam durch die Berliner Nächte und machen einfach, was sie wollen. Dabei geht nicht nur jede Menge Porzellan zu Bruch…

    Es beginnt mit einem verpatzten Bocksprung. Als Maggie in der Anfangsszene unsanft auf die Nase fliegt, ahnen wir noch nicht, welche Bedeutung dieser Fehlgriff für sie hat. Das klärt sich wenig später zwar noch, aber sonst erfahren wir so gut wie nichts über die Vergangenheit und die Herkunft der Protagonistin sowie der anderen Figuren. Jakob Lass verzichtet erneut auf ein Drehbuch und auf eine detailliert ausgearbeitete Handlung, stattdessen setzt er auf dokumentarische Unmittelbarkeit und ganz viel Improvisation – so wie er und seine Mitstreiter es schon vor Jahren in ihrem FOGMA-Regelwerk (angelehnt an das dänische Dogma-Manifest) festgelegt haben. Was nach künstlicher Verknappung und willkürlicher Selbstbeschränkung klingen mag, erweist sich als Befreiungsakt: Durch das Sprengen der dramaturgischen Fesseln des konventionellen Erzählkinos gewinnt der Film eine unerhörte Freiheit – und die beiden Hauptfiguren leben diese Ungezügeltheit vor.

    Die Parklücke ist zu schmal? Die Frau am Briefkasten wird patzig? Wir brauchen Geld (und wollen nebenbei den schmucken Einkaufscenterkunden nackt sehen)? Wir hätten gern eine Polizeiuniform? Wenn Vanilla und Tiger etwas wollen, dann nehmen sie es sich. Lustvoll geben sie ihren Launen nach – Fragen nach richtig oder falsch kommen bei der Selbstverständlichkeit und dem Einfallsreichtum, mit der das inszeniert und gespielt ist, über weite Strecken gar nicht erst auf. Im Gegenteil: Wenn Maggie in der U-Bahn bedrängt wird, Tiger die Schmierlappen im Kung-Fu-Stil versohlt und schließlich ein Baseballschläger zum rächenden Einsatz kommt, dann gibt es Szenenapplaus wie bei einem Dirty-Harry-Film oder bei „Ein Mann sieht rot“ in den 70ern. Der Höhepunkt des anarchischen Treibens ist es, wenn die beiden Frauen eine Kunstausstellung crashen: Sie verstoßen wieder einmal gegen alle Regeln und ziehen sich die Exponate (diamantenbesetzte Masken, die an die Aufmachung von Tom Hardys Bane in „The Dark Knight Rises“ erinnern) übers Gesicht. Doch Tiger und Vanilla haben die Rechnung ohne die zierliche PR-Tante der Ausstellung gemacht, die sich ebenfalls als gewiefte Kampfsportlerin erweist…

    Die fast schon jubilierende „Ihr könnt uns alle mal“-Geste der ersten Filmhälfte hält Jakob Lass dann aber doch nicht durch. Asoziales Verhalten bleibt auch hier nicht folgenlos: Es kommt schließlich zum Konflikt zwischen den Protagonistinnen – diese Entwicklung kann man als Rückzieher oder gar als Verrat am wahrhaft zügellosen Beginn empfinden. Aber der Film bekommt damit auch eine Ambivalenz, die ihn vor jeder platten Vereinnahmung bewahrt. Die einen mögen  Gewaltverherrlichung wittern, andere ein spießiges Schwanzeinziehen konstatieren – aber eindeutig ist der Film eben glücklicherweise nicht. Das ist auch den Darstellern zu verdanken, die das Ganze in einer zutiefst menschlichen Realität verankern: Maggies Frust ist bei Maria Dragus („Das weiße Band“) von einer unausgesprochenen Sehnsucht durchdrungen, Tigers starke Überzeugungen geraten in Ella Rumpfs („Raw“) Darstellung ebenfalls fast ohne Worte mit ihren Gefühlen in Konflikt - und als schauspielerisches Naturtalent bringt uns der Laiendarsteller Orce Feldschau, der sich als Security-Kursleiter selbst spielt, mit Humor und Engagement seinen Berufsstand nahe.

    Fazit: Nach „Love Steaks“ ein weiterer ganz starker Film von Jakob Lass: wild, dynamisch, emotional! Das ist (hoffentlich) die Zukunft des deutschen Kinos!

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