Der Hessische Rundfunk hat es mal wieder geschafft: Nach der irren Krimi-Groteske „Tatort: Das Dorf“ von 2011 und der überragenden Shakespeare-Italo-Western-Oper „Tatort: Im Schmerz geboren“ von 2014 bewies der öffentlich-rechtliche Sender 2015 mit der köstlich-selbstironischen Film-im-Film-Konstruktion „Tatort: Wer bin ich?“ erneut, dass in der Krimireihe nichts mehr unmöglich ist. In den sozialen Netzwerken tobte nach der Erstausstrahlung allerdings der von Hauptdarsteller Ulrich Tukur („Exit Marrakech“) vorhergesagte Shitstorm: Viele Zuschauer, die sich auf einen gemütlichen Sonntagabendkrimi nach altbewährtem Rezept gefreut hatten, konnten mit dem fünften Fall von LKA-Ermittler Felix Murot rein gar nichts anfangen und ließen nach dem Abspann ordentlich Dampf ab. Im Feuilleton wurde die selbstreflexive Krimikomödie dagegen überwiegend gelobt - und auch der sechste Fall des umstrittenen „Tatort“-Ermittlers dürfte nun wieder für ein gespaltenes Echo sorgen: Sebastian Markas „Tatort: Es lebe der Tod“ ist ein auffallend ruhiges, aber herausragend gespieltes Krimidrama, bei dem die Grenzen des beliebten Sonntagabendformats einmal mehr fleißig ausgetestet werden.
In Wiesbaden geht ein Serienkiller um: Scheinbar friedlich, wie bei einem Selbstmord, scheiden seine Opfer der Reihe nach aus dem Leben. LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) und seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) lassen sich etwas Besonderes einfallen: Sie inszenieren einen weiteren Mord, der sich von den echten Todesfällen unterscheidet, um den Täter aus der Reserve zu locken. Der geht ihnen prompt ins Netz: Arthur Steinmetz (Jens Harzer) gesteht die Morde, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch sie lassen sich ihm nicht nachweisen. Vielmehr verfolgt Steinmetz, der sich als eine Art Todesengel sieht und seine Opfer nur von vermeintlichem Leid erlösen wollte, einen perfiden Plan: Alle Toten scheinen in Verbindung mit Murot zu stehen, der das letzte Opfer des Serientäters werden soll. Aber wie will Steinmetz das anstellen und was treibt ihn an? Murot und Wächter, die bei den Ermittlungen von ihren Kollegen Holger Wieland (Hans Löw) und Ralf Neff (Yogal Gleim) sowie der Verhaltensspezialistin (Corinna Kirchhoff) unterstützt werden, entdecken immer mehr Hinweise auf sein Motiv – und müssen bald feststellen, dass der Inhaftierte am längeren Hebel sitzt...
Die Parallelen zu David Finchers Meisterwerk „Sieben“ und ähnlich gelagerten Psychothrillern sind nicht zu übersehen: Führte in dem Hollywood-Klassiker, der in der FILMSTARTS-Rangliste der besten Thriller aller Zeiten Platz 4 belegt, der eiskalte Serienmörder John Doe (Kevin Spacey) die FBI-Ermittler Mills (Brad Pitt) und Somerset (Morgan Freeman) selbst in Gefangenschaft noch an der Nase herum, ist es hier der bemerkenswert gelassene Steinmetz, der Murot und Wächter ein Puzzleteil nach dem nächsten zuspielt und in Seelenruhe darauf wartet, dass diese sie korrekt zusammensetzen. Wenngleich es mit einer späten Postzustellung im Polizeipräsidium sogar eine unverhohlene Anspielung auf die krachende Schlusspointe in „Sieben“ gibt, macht der Täter im „Tatort“ aus seinem großen Ziel allerdings kein Geheimnis: Er möchte Murot sterben sehen – und ist felsenfest davon überzeugt, dass ihm sein Plan gelingt, für den er gute Gründe zu haben glaubt. Und weil über einen siebten „Tatort“ aus Wiesbaden momentan noch wenig nach außen gedrungen ist, während Hauptdarsteller Ulrich Tukur in den vergangenen Monaten immer mal wieder öffentlich mit Abschiedsgedanken spielte, scheint der Tod des Kommissars sogar tatsächlich möglich: Ein dramatisches Finale ist von Beginn an vorprogrammiert.
Nun ist die Gangart im 1001. „Tatort“ eine deutlich ruhigere als in „Sieben“, der Spannungsaufbau deutlich subtiler und Jens Harzer („Same Same But Different“) kein Kevin Spacey, doch auch der gelernte Theaterschauspieler zeigt eine tolle Performance und drückt dem Krimidrama seinen Stempel auf: Der undurchsichtige Antagonist trägt zwar fast den gesamten Film über eine Sonnenbrille, doch lässt diese gerade so viel Licht hindurch, dass die Eiseskälte und das unerschütterliche Selbstbewusstsein aus seinen Augen durchschimmern. Mit seinem reduzierten Mienenspiel strahlt der Bösewicht zugleich eine rätselhafte Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann: Ähnlich wie Richard Harloff (Ulrich Matthes) im „Tatort: Im Schmerz geboren“ begegnet er Murot auf Augenhöhe, wenngleich die zielstrebig zugespitzte Konfrontation zwischen den beiden bei weitem nicht so spektakulär ausfällt. Dennoch entwickelt sich zwischen dem Serienmörder und dem aufgewühlten Ex-Tumorpatienten Murot schnell ein reizvolles Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Steinmetz eine wichtige Trumpfkarte lange zurückhält. Und erneut darf Murots Kollegin Wächter beim Showdown die wichtige Rolle einnehmen, die man ihr in den ersten Beiträgen aus Wiesbaden noch nicht zugestanden hat.
Auch hinter der Kamera setzt der Hessische Rundfunk wieder auf erprobtes erstklassige Personal: Regisseur Sebastian Marka knüpft mit seiner atmosphärischen Inszenierung nahtlos an seinen bärenstarken Frankfurter „Tatort: Das Haus am Ende der Straße“ an, während Drehbuchautor Erol Yesilkaya nach seinem überraschenden Cliffhanger im tollen Münchner „Tatort: Die Wahrheit“ den Fans der Krimireihe auch diesmal Gesprächsstoff liefert. Immer wieder verwischen in diesem intensiven, von einem wunderbaren Soundtrack begleiteten Psychodrama die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, was der Charakterzeichnung enorm dienlich ist: Während die Motive des Täters in dessen Kindheit liegen und einleitend in angemessener Knappheit umrissen werden, muss Murot den Tod seines Vaters aufarbeiten, den er offenbar nie überwunden hat. Der Ermittlungsalltag rückt allerdings bisweilen in den Hintergrund: Neue Erkenntnisse werden meist mit wenigen Sätzen zusammengefasst und nicht in gewohnter Manier ausführlich illustriert – wer schon die vorigen Beiträge aus Hessen nicht mochte, wird wohl auch diesmal seine Probleme mit dem Film haben. Aber Mainstream war der „Tatort“ aus Wiesbaden bekanntlich noch nie.
Fazit: Es lebe der Tod! Sebastian Markas gleichnamiger „Tatort“ ist ein stark gespieltes und atmosphärisch dichtes Krimidrama, in dem der Kommissar ebenso an seine Grenzen gebracht wird wie das „Tatort“-Format als solches.