Ein Drogenbaron, der noch nicht mal Alkohol kaufen darf
Von Antje WesselsRichard Wershe Jr. ist 1987 als einer der erfolgreichsten Drogenbosse des Landes in die Kriminalgeschichte der Vereinigten Staaten eingegangen – dabei war er zum Zeitpunkt seiner Verhaftung noch nicht einmal volljährig. Und damit nicht genug: Noch bevor der naive Teenager zur gut vernetzten Unterweltgröße avancierte, arbeitete er bereits drei Jahre lang als Informant für das FBI – mit 14 Jahren gilt er bis heute als der jüngste Undercover-Spitzel in der Historie der Bundesbehörde. Als sich Andy Weiss („Scappers“) sowie die Brüder Logan und Noah Miller im Jahr 2014 dazu entschlossen, die wahre Geschichte zu einem Drehbuch zu verarbeiten, saß ihr Protagonist noch immer seine Haftstrafe im Staatsgefängnis von Michigan ab. Nur ein Jahr später landete das Skript auf der berühmten Blacklist, auf der einmal jährlich die vielversprechendsten, aber bislang unverfilmten Drehbücher aufgeführt werden. Der Brite Yann Demange, der nach seinem intensiven irischen Bürgerkriegs-Drama „’71 – Hinter feindlichen Linien“ nun mit „White Boy Rick“ den Sprung nach Hollywood wagt, hat den Stoff als angenehm unaufgeregt inszenierten Mix aus Unterwelt-Thriller und Familien-Drama in Szene gesetzt, der gen Ende allerdings droht, die unbedingt verurteilungswürdigen Taten des Teenagers über die Maßen zu verklären.
Detroit in den 80er Jahren, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen Drogen: Um sich irgendwann einmal den Traum von einer eigenen Videothekenkette zu erfüllen, verdient sich der alleinerziehende Vater Richard Wershe Senior (Matthew McConaughey) sein Geld damit, schallgedämpfte Waffen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Sein Sohn Richard „Rick“ Wershe Jr. (Richie Merritt) bewundert ihn für seinen Unternehmergeist und hilft eifrig mit. Zu seinen Stammkunden zählen dabei auch die örtlichen Drogendealer in einem Vorort von Detroit. Und das, obwohl seine eigene Schwester Dawn (Bel Powley) bereits vor Jahren der Drogensucht verfallen ist. Aber eines Tages geht etwas schief und Rick landet auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens. Doch anstatt ihn festzunehmen, bieten ihm die Beamten Snyder (Jennifer Jason Leigh) und Byrd (Rory Cochrane) einen Deal an: Rick soll als Undercover-Informant für das FBI arbeiten und die Cops mit Insiderinfos versorgen. Das geht eine ganze Weile gut, bis Rick nach und nach die Seiten wechselt und selbst in der Hierarchie des Drogengeschäfts immer weiter aufsteigt – und das, obwohl man nicht das Gefühl hat, dass er die Konsequenzen seines Handelns auch nur im Ansatz abschätzen kann. Sein Vater ist gezwungen, dem ganzen Treiben hilflos zusehen...
Es klingt natürlich erst einmal ziemlich weit hergeholt: Ein 14-jähriger Weißer erarbeitet sich im fast ausschließlich von Schwarzen dominierten Drogenmilieu den Respekt selbst von Typen, die nicht nur doppelt so hoch und breit, sondern auch bis an die Zähne bewaffnet und zu allem bereit sind. Es ist eine der größten Stärken des Skripts, dass es diesen so unwahrscheinlichen Aufstieg erstaunlich glaubwürdig und nachvollziehbar schildert: Durch seine Geschäfte in der Waffenszene hat er mit der Zeit ein solches Selbstverständnis entwickelt, dass er in die Verhandlungen mit den Drogenbossen ohne jede Angst hineingeht (wobei da sicherlich ein gehöriges Maß Naivität ebenfalls eine Rolle spielt). Dabei gewinnt Rick immer mehr Ansehen dazu, bis er irgendwann selbst zum Teil der Community wird. Auch die typischen Manierismen und den Ghetto-Slang eignet er sich an, bis er innerhalb kürzester Zeit voll und ganz in die Unterwelt von Detroit integriert ist.
Es fällt schwer zu glauben, dass „White Boy Rick“ wirklich der erste Film des 17-jährigen Newcomers Richie Merritt ist. So ein weißer Teenie, der einen auf dealenden Schwarzen macht, kann natürlich schnell lächerlich wirken. Aber bei Merritt ist diese Attitüde nie aufgesetzt. Und auch die zurückgenommenen, gefühlvolleren Gesten vor allem beim Umgang mit seiner Familie sitzen. Mehr noch als ein atmosphärischer Milieuthriller ist „White Boy Rick“ ein packendes Familiendrama, an dessen emotionalem Punch Oscarpreisträger Matthew McConaughey (ausgezeichnet für „Dallas Buyers Club“) einen gewichtigen Anteil hat. Er mimt den zwar heillos überforderten, aber dabei dennoch stets aufopferungsvoll um das Wohl seiner Kinder besorgten Familienvater mit größter Hingabe und profitiert von dem zurückhaltenden Skript, das nie das ganz große Drama forciert, sondern stattdessen lieber die feinen Nuancen des Vater-Sohn-Gespannes auslotet. Es gibt keine ausufernden Streitgespräche, keine dramatischen Versuche, seinen Sohn aus dem Milieu wegzuholen, oder andere große Gesten der Verzweiflung. Das einzig große Statement ist hier, dass McConaughey mit einer besonders grauenhaften Vokuhila-Frisur – mal wieder – konsequent gegen sein Sexiest-Man-Alive-Image anspielt.
Fast noch besser ist allerdings „Diary Of A Teenage Girl“-Shooting-Star Bel Powley, die in die Rolle von Ricks drogenabhängiger Schwester Dawn schlüpft. Deshalb ist es so schade, dass ihr nur im Rahmen eines Nebenplots abgehandelte Entwicklung vom krassen Junkie zur durch einen kalten Entzug geläuterten jungen Frau ein wenig wie im Eilverfahren abgehandelt wird. Doch gerade die Szenen zwischen ihr, ihrem Vater und ihrem Bruder gehen beim Schauen so richtig an die Nieren. Wie Powley hier als von der Drogensucht gezeichnete junge Frau auftritt, die dank glaubhaftem Make-up so aussieht, als wäre sie durch die Drogen doppelt so schnell gealtert, schnürt einem regelrecht die Kehle zu.
Entgegen der üblichen Dramaturgie in diesem Genre verlagert sich das Gewicht nicht hin zu immer größeren und gefährlicheren Deals, stattdessen wird das letzte Drittel des Films fast ausschließlich von der Beziehung zwischen Vater und Sohn dominiert. Es ist also durchaus gewollt, dass man hier Mitleid mit den beiden bekommt, die sich nach Ricks Verurteilung nur noch durch eine Glasscheibe sehen können. Wenn der Film dann auch noch kurz nach einem solchen dramatischen Gespräch abrupt endet, entlässt einen „White Boy Rick“ nicht unbedingt mit dem Eindruck, dass man hier gerade der Karriere eines Kriminellen zugesehen hat. Stattdessen gibt es eine Texttafel mit dem Hinweis, dass nie zuvor ein gewaltfreier Täter eine höhere Haftstrafe erhalten hat. Das ist zumindest irritierend, schließlich hat der Film ja gerade erst selbst anhand der Schwesternfigur gezeigt, wie Rick mit seinen völlig undurchdachten Taten reihenweise Leben zerstört hat. An dieser Stelle hätte den Filmemachern ein wenig mehr Abstand zu ihrem Protagonisten definitiv gutgetan.
Fazit: „White Boy Rick“ bietet eine stimmige Mischung aus Milieustudie, Drogenthriller und Familiendrama, das so stark gespielt ist, dass am Schluss selbst der Regisseur ein Stück weit auf seinen eigenen Protagonisten hereinzufallen scheint. ...