Die „Schachnovelle“ oder „Sternstunden der Menschheit“ sind Standardlektüre an deutschsprachigen Schulen und wie das in solchen Fällen unvermeidlich ist, wird die beflissen angeleitete Pflichtbegegnung sicher so manchem jungen Menschen die Lust auf Stefan Zweig (1881-1942) und sein Werk verdorben haben. Dabei zählte der Österreicher zu Lebzeiten nicht umsonst zu den berühmtesten Autoren der Welt. Ganz so groß ist sein Ruhm heute vielleicht nicht mehr, aber das ändert nichts an seiner Relevanz. Der überzeugte Europäer inspirierte zuletzt etwa Wes Anderson, dessen „Grand Budapest Hotel“ von Zweigs elegischem „Die Welt von Gestern“ geradezu beflügelt wurde. Nun legt Regisseurin Maria Schrader mit „Vor der Morgenröte“ einen ambitionierten biografischen Film über den Autor vor und unterstreicht mit einem ungewöhnlichen Ansatz noch die Gegenwartsbezüge und somit die Aktualität von Zweigs Leben und Schaffen.
Maria Schrader teilt ihren Film in sechs lose verbundene vignettenhafte Episoden, angesiedelt zwischen August 1936 und Februar 1942 in den letzten Lebensjahren von Stefan Zweig (Josef Hader). Damit macht sie „Vor der Morgenröte“ vor allem anderen zu einer Erzählung über Emigration und Heimat, Flucht und Verantwortung. Der international verehrte Schriftsteller leidet doppelt unter seinem Exil, denn dass er sich in Sicherheit befindet, während so viele andere in Gefahr leben, belastet sein Gewissen. Aus seiner privilegierten Position heraus sieht er sich nicht in der Lage, sich vehement gegen das Nazi-Regime und den (zunächst noch) drohenden Krieg auszusprechen, wie es immer wieder von ihm gewünscht wird – mit wohlfeilen Worten lässt sich Hitler in seinen Augen nicht bekämpfen. Der äußeren folgte daher für Zweig die innere Emigration und mit dieser eine zunehmende Einsamkeit in Brasilien, wo er 1942 freiwillig aus dem Leben scheidet.
In ihrer nach „Liebesleben“ zweiten Regiearbeit folgt Maria Schrader ganz bewusst nicht dem klassischen Schema handelsüblicher biografischer Filme mit ihrer Höhepunkt-Dramaturgie, sondern zeichnet ein impressionistisches Porträt, bei dem das Wesentliche gleichsam zwischen den Zeilen und zwischen den Bildern erzählt wird. Die Zusammenhänge zwischen den sechs sehr eigenständigen Episoden des Films erschließen sich nicht unmittelbar, hier geht es eben nicht darum, ein Leben in ein Schema aus Ursache und Wirkung zu pressen. Trotzdem ist jeder Zuschauer, der ein gewisses Vorwissen über Zweig und seine Zeit mitbringt, klar im Vorteil. Für den inneren Zusammenhalt des Films sorgt davon unabhängig Hauptdarsteller Josef Hader, der Zweigs innere Konflikte, seine Selbstzweifel, seine zunehmende Skepsis an der Menschheit subtil zum Ausdruck bringt. Schraders Inszenierung hingegen fällt uneinheitlich aus: Sie schwankt immer wieder unbestimmt zwischen Realismus und Künstlichkeit, zwischendurch wagt sie acht, neun Minuten lange Einstellungen, die den Film ähnlich wie einige gestelzte Dialoge und überzeichnete Karikaturen unter den Nebenfiguren (besonders wenn es um die Bewohner Brasiliens geht) zuweilen aus dem Rhythmus bringen.
Fazit: Maria Schraders zweite Regiearbeit „Vor der Morgenröte“ über die letzten Jahre des Schriftstellers ist ein ungewöhnliche und anregende, wenn auch nicht rundherum gelungene Filmbiografie der etwas anderen Art.