Gut auch ohne Mushu
Von Christoph PetersenWenn man den fotorealistisch animierten „Der König der Löwen“ mit dazuzählt, dann sind 2019 gleich fünf (!) Realfilm-Remakes von Zeichentrick-Klassikern aus dem Hause Disney erschienen: Neben der „König der Löwen“-Neuauflage liefen auch noch „Dumbo“, „Aladdin“ und „Maleficent 2“ im Kino, während die Echthund-Version von „Susi & Strolch“ zum Start von Disney+ auf dem maushauseigenen Streaming-Service veröffentlicht wurde. 2020 wiederrum setzt Disney nun aber – zumindest in diesem Geschäftsbereich - alles auf eine Karte!
Das je nach Quelle mindestens 200 Millionen Dollar teure Abenteuer-Epos „Mulan“ ist dabei weniger ein direktes Remake des gleichnamigen Zeichentrick-Musicals, das 1998 zum dritterfolgreichsten Film des Jahres in Deutschland avancierte. Stattdessen entpuppt sich die erste Blockbuster-Produktion von „Whale Rider“-Regisseurin Niki Caro, die aufgrund der Corona-Pandemie direkt bei Disney+ und nicht in den Kinos landet, als eine zeitgemäße Neuinterpretation des klassischen chinesischen Volksgedichts über ein Mädchen, das sich im 5. Jahrhundert nach Christus als Junge ausgibt, um an der Stelle seines kranken Vaters in den Krieg zu ziehen.
Definitiv der Breakout-Star dieses Films: Yifei Liu als Mulan.
Schon als junges Mädchen wird Mulan (Crystal Rao) von ihren Eltern und der Dorfgemeinschaft immer wieder eingebläut, nicht so wild herumzutoben, sondern sich stattdessen auf angeblich weibliche Tugenden zu besinnen. Denn nur als pflichtbewusste Ehefrau könne sie ihrer Familie Ehre bringen. Aber gerade als sich Mulan (nun: Yifei Liu) mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben scheint, wird das chinesische Kaiserreich von dem Kriegsfürsten Bori Khan (Jason Scott Lee) und der ihm treu ergebenen Zauberin Xian Lang (Li Gong) angegriffen.
Der Kaiser (Jet Li) verlangt, dass jede Familie einen Mann für seine Armee abstellt. Weil ihr Vater Hua Zhou (Tzi Ma) zwei Töchter hat und selbst schon am Stock geht, schleicht Mulan heimlich davon, um sich an seiner Stelle und als Mann verkleidet beim strengen Kommandanten Tung (Donnie Yen) zum Militärdienst zu melden. Und als ob die Ausbildung zum Soldaten nicht ohnehin schon hart genug wäre, muss Mulan zusätzlich auch immer noch darum fürchten, dass jemand hinter ihr Geheimnis kommt...
Fans werden die bekanntesten Melodien aus dem Zeichentrick-Musical zwar in den Score eingewoben wiederentdecken, aber darüber hinaus gibt es diesmal keine Songs und auch keinen dauerbrabbelnden Sidekick-Drachen namens Mushu. Trotz dieser Streichungen ist die 2020er-Fassung eine halbe Stunde länger als das Neunziger-Original: Der neue „Mulan“ hat wie gesagt mindestens 200 Millionen Dollar verschlungen – und das sieht man auch! Das mit Fantasy-Elementen angereicherte Historien-Abenteuer punktet durchweg mit einem epischen Anstrich, der offensichtlich für die größtmöglichen Leinwände ausgelegt ist – und so dauert es trotz einer weiterhin nicht unnötig aufgeplusterten Story eben ein wenig länger.
Am stärksten fallen dabei die Action-Szenen ins Auge, bei denen sich Niki Caro und ihre Kampf-Choreografen spürbar am chinesischen Wuxia-Genre – mit seinen auch im Westen bekannten Vertretern wie „A Chinese Ghost Story“, „Tiger & Dragon“ und „House Of Flying Daggers“ – orientieren: Wo die Martial-Arts-Sequenzen in Wuxia-Filmen oft sehr ausladend ausfallen, sind sie in „Mulan“ zwar meist sehr viel kürzer, aber die visuellen Einfälle und ausgefeilten Choreografien können sich trotzdem sehen lassen. Vor allem eine nur wenige Sekunden lange Sequenz, in der der mit seinem Bart kaum wiederzuerkennende Jet Li als Kaiser einen in zwei Teile gerissenen Stoffvorhang als eine Art riesige Peitsche nutzt, macht echt was her – da hätte man in den meisten Fällen gern noch viel mehr von gesehen. Aber lieber so als andersrum...
Yifei Liu macht auch als männlicher Soldat eine glaubhafte Figur.
Während „Mulan“ nicht das erste Realfilm-Remake von Disney ist, das in Deutschland ab 12 Jahren freigegeben wurde (das war etwa auch bei „Alice im Wunderland“ oder „Maleficent 2“ so), ist es doch das erste, da in den USA mit einem PG-13-Rating bedacht wurde. Nun fließt deshalb natürlich nicht gleich bächeweise Blut – aber es gibt durchaus Szenen, in denen die verheerende Verwüstung durch die Invasoren angemessen nachvollziehbar gemacht wird, und auch die Kämpfe entwickeln durchaus einen ordentlichen Punch. Letzteres liegt neben den abwechslungsreichen Choreografien vor allem an Hauptdarstellerin Yifei Liu. Wie immer man zu ihren politischen Aussagen auch stehen mag, sie ist definitiv der Breakout-Star dieses Films!
Während etwa Donnie Yen („Rogue One: A Star Wars Story“), als Protagonist der inzwischen vierteiligen „Ip Man“-Reihe eigentlich längst über jeden Martial-Arts-Zweifel erhaben, diesmal einfach nicht so recht aus dem Quark kommt, nimmt man Yifei Liu die spektakuläre Drahtseil-Akrobatik in jeder Szene ab. Dasselbe gilt auch für ihre Auftritte als männlicher Rekrut – es gibt ja mehr als genug Beispiele für Verwechslungskomödien, in denen die verkleidete Protagonistin realistisch nicht für eine Sekunde tatsächlich als Mann durchgehen würde. Hier ist das zum Glück anders.
Im Zeichentrickfilm gehören Mulans drei Soldaten-Sidekicks noch mit zu den Highlights – in der Neuverfilmung können sie sich hingegen kaum in den Vordergrund spielen, selbst wenn Yoson An als Love Interest Chen Honghui den eindrucksvollsten Waschbrettbauch-Moment seit Brad Pitts Antennen-Reparatur in „Once Upon A Time... In Hollywood“ abliefert. Ähnliches gilt für Jason Scott Lee („Dragon – Die Bruce Lee Story“) als Invasoren-Anführer Bori Khan – da war sein gezeichnetes Vorbild doch sehr viel schreckenerregender. Das liegt aber eben auch daran, dass die neu dazuerfundene Hexe Xian Lang mehr in den Vordergrund rückt ...
... was dem Film auch insgesamt sehr gut tut: Natürlich hat der neue „Mulan“ ein klares feministisches Moment. Im Gegensatz zum Zeichentrick-Original ist die Titelheldin hier – im Einklang mit den Gepflogenheiten des Wuxia-Genres – schon im Kindesalter eine Art Superheldin, die nur endlich zu sich selbst stehen muss, um ihre übermenschlichen Fähigkeiten voll ausschöpfen zu können. Das kann man zu offensichtlich oder genau richtig finden. Wirklich toll und sehr viel subtiler ist aber die ungewöhnliche Beziehung zwischen Mulan und Xian Lang – am Ende ist sie fast so etwas wie das eigentliche Herz des Films und damit hätten wir vorab nun wirklich nicht gerechnet.
Fazit: Ein durchaus mitreißendes Heldinnen-Epos mit imposanten (wenn auch etwas knappen) Martial-Arts-Einlagen, dem es guttut, sich nicht allzu sklavisch an die beliebte Zeichentrick-Vorlage zu klammern.
PS: Mir ist bewusst, dass der Zeichentrick-„Mulan“ für viele Disney-Fans im passenden Alter eine ganz maßgebliche Kinoerfahrung war. Ich habe den Film hingegen erst jetzt in Vorbereitung auf diese Kritik nachgeholt – und trotz der visuellen Brillanz schien für mich dabei so stark die damals gängige Disney-Masche (Heldin mit Sidekick) durch, dass ich den Film am Ende nur mittelmäßig fand. Für mich ist „Mulan“ deshalb das erste Realfilm-Remake von Disney, das die Vorlage sogar übertrifft. Wer hingegen an seinen Jugenderinnerungen an das Zeichentrick-Musical hängt, bei dem könnte es natürlich deutlich schwerer ins Gewicht fallen, dass Mushu und die Songs in der Neuauflage herausgestrichen wurden.