Ein bombastisches Vergnügen
Von Björn BecherDrei verschiedene Spider-Man-Inkarnationen schwangen sich in den Filmen von Sam Raimi, Marc Webb und Jon Watts in den vergangenen 16 Jahren über die Kinoleinwände. In „Spider-Man: A New Universe“ kommt nicht nur Nummer 4 dazu, sondern auch noch Nummer 5, Nummer 6... und noch viele mehr! Denn das von den „The LEGO Movie“-Machern Phil Lord und Chris Miller produzierte Spidey-Abenteuer unterscheidet sich von den Vorgängern nicht nur dadurch, dass es der erste Animations-Kinofilm rund um den beliebten Marvel-Superhelden ist, es treten darin auch gleich mehr als ein halbes Dutzend verschiedene Spider-Men auf! In erster Linie ist das von Bob Persichetti, Peter Ramsey und Rodney Rothman inszenierte Spektakel eine einzige große Meta-Erzählung voller Referenzen auf Comics, TV-Serien und die bisherigen Kinofilme. Für Fans der Figur ist „Spider-Man: A New Universe“ daher DER ultimative Film rund um die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft! Aber auch „normale“ Zuschauer können mit der rasanten und einfach nur fantastisch aussehenden Animationskomödie ihren Spaß haben, denn hinter der bombastischen Action und den zuverlässig zündenden Pointen verbirgt sich immer auch eine starke Geschichte.
Peter Parker (im Original gesprochen von Chris Pine) ist der einzige Spider-Man. Seit zehn Jahren bekämpft er Bösewichte, stoppt rasende Züge und küsst seine große Liebe Mary Jane (Zoë Kravitz). Er ist ein Held, über den es jede Menge Comics und sogar eine Zeichentrick-Serie gibt. Doch eines Tages wird der aus Brooklyn stammende, graffitisprühende Teenager Miles Morales (Shameik Moore) ebenfalls von einer radioaktiven Spinne gebissen. Während er noch versucht herauszufinden, was da mit seinem Körper eigentlich gerade geschieht, muss er zufällig mit ansehen, wie Peter Parker in einem Kampf gegen den Grünen Goblin (Jorma Taccone) und den mächtigen Kingpin (Liev Schreiber) getötet wird. Dabei gelingt es dem Kingpin sogar kurzzeitig, ein Portal in andere Dimensionen zu öffnen. Als Miles wenig später am Grab von Peter Parker steht, trifft er dort auf einen Mann, der dem toten Helden zum Verwechseln ähnlich ist – auch wenn er etwas älter, dicker und abgewrackter aussieht: Auch Peter B. Parker (Jake Johnson) ist Spider-Man, wenn auch aus einer anderen Dimension. Er wurde durch die Öffnung des Portals in diese Welt katapultiert und muss nun in seine zurück. Und er ist nicht der Einzige mit diesem Problem...
Wenn am Ende von „Spider-Man: A New Universe“ an die Erfinder der Figur gedacht wird, geht das gerade in diesen Tagen natürlich ganz besonders zu Herzen: Schließlich sind sowohl der Zeichner Steve Ditko als auch der Autor Stan Lee in diesem Jahr verstorben. Aber auch ohne diese Tragik hätte ihr Leitspruch, der in diesem Moment auf der Leinwand erscheint, wohl eine ähnlich große Kraft entfaltet: Ditko und Lee wollten mit Spider-Man in erster Linie ausdrücken, dass jeder ein Held sein kann, weshalb sie gerade einem Teenager mit den üblichen Pubertätsproblemen mit Superkräften ausgestattet haben. Und das ist auch die zentrale Botschaft, die nun in „Spider-Man: A New Universe“ mitschwingt, obwohl sie bis zum Ende gar nicht großartig betont wird. Mit Miles führt zwar ein Junge mit afro-hispanischen Wurzeln das neue Superheldentableau an, aber dazu kommt auch noch ein Typ in seiner Midlife-Crisis, ein blondes Mädchen, ein Zyniker in Schwarz-Weiß und sogar ein Schwein im Spider-Man-Kostüm.
Dass mehrere Spider-Man-Inkarnationen im Film auftreten, kommt wenig überraschend, das wurde schließlich schon im Trailer verraten. Viel spannender ist aber sowieso, was die verschiedenen Spider-Men noch so mitbringen, nämlich nicht nur ihre eigenen Animationsstile, sondern auch sehr unterschiedliche Erzähltöne. Gemeinsam mit der aus der fernen Zukunft stammenden, japanischstämmigen Peni Parker (Kimiko Glenn) und ihrem Spidey-Roboter gibt es plötzlich auch überdrehte Anime-Elemente à la „Mila Superstar“. Während „Spider-Girl“ Gwen Stacy (Hailee Steinfeld) für taffe Coolness sorgt und die Cartoon-Ursprünge von Schweinchen Spider-Ham (John Mulaney) leider nur bedingt genutzt werden, erweist sich vor allem der in der Originalfassung von Nicolas Cage synchronisierte Spider-Man Noir als überraschend treffsicherer Witzgarant.
Bei dem aus einem 30er-Jahre-Noir-Universum stammenden Zyniker ist jeder – und wir meinen wirklich absolut jeder - einzelne Satz ein Brüller. Selbst so naheliegende Witze, wie dem Schwarz-Weiß-Helden, dem Farben natürlich fremd sind, einen Zauberwürfel in die Hand zu drücken, sind so perfekt getimt, dass sie trotzdem saukomisch sind. Glücklicherweise hat Sony Deutschland auf eine im Animationsfach ja oft übliche Promi-Synchronisation verzichtet, weshalb Cages prägnanter deutscher Stammsprecher Martin Keßler nun seinen Teil dazu beiträgt, dass diese Figur auch in der deutschen Fassung ganz hervorragend funktioniert. Übrigens macht auch der einzige „Promi-Sprecher“, der mittlerweile häufiger als Synchronsprecher tätige YouTuber Erik „Gronkh“ Range („The LEGO Batman“, „Alien: Covenant“) als Kingpin seinen Job zumindest sehr ordentlich.
Während man bei den abseitigen, einer breiten Masse praktisch unbekannten Comic-Figuren wie Spider-Man Noir oder Spider-Ham vor allem auf Gags setzt, die so universell funktionieren, dass man die Hintergründe der Helden gar nicht weiter kennen muss, um sie lustig zu finden, richtet sich „Spider-Man: A New Universe“ insgesamt aber trotzdem an Kenner der Comics und vor allem der bisherigen Filme. Wenn die übliche Origin-Story um den Spinnenbiss hier mit einem trockenen „Ihr kennt das ja alles schon“-Kommentar abgewürgt wird, bekommen wir stattdessen im Schnelldurchlauf Bilder hingeworfen, die deutlich auf „Spider-Man 1-3“, „The Amazing Spider-Man 1 & 2“ und „Spider-Man: Homecoming“ verweisen. Der Witz funktioniert hier nur, wenn man diese Filme kennt. Sonst fragt man sich wahrscheinlich nur verwundert, was diese peinliche Tanzszene da gerade bloß zu suchen hatte.
Auch einige andere, ziemlich durchgeknallte Gags bauen auf dem Vorwissen des Zuschauers über Filme und Comics auf. Das trägt seinen Teil dazu bei, dass dieser Animationsfilm trotz einer (überraschend niedrigen) Freigabe ab 6 Jahren ganz sicher nix für kleine Kinder ist. Schließlich sind die Bösewichte hier auch wirklich düster. Der Kingpin ist als massiger, über Leichen gehender Oberboss im XXXXL-Format eine gewaltig-gewalttätige Erscheinung, und auch Miles‘ Comic-Erzfeind Prowler (aus Spoilergründen verzichten wir hier auf den Sprecher) wird richtig unheimlich in Szene gesetzt, einige seiner Boogeyman-Auftritte haben sogar echte Horrorfilm-Qualitäten.
Die Inszenierung der drei Regisseure ist ziemlich herausragend. „Die Hüter des Lichts“-Regisseur Peter Ramsey und seine in dieser Rolle debütierenden Kollegen Bob Persichetti (langjähriger Zeichner bei Disney) und Rodney Rothman (Autor von „22 Jump Street“) haben mit ihrem Animationsteam (nicht nur einen) Stil entwickelt, den es so einfach noch nicht gab. Wenn sie Miles Morales bei seiner ersten Szene ganz nah kommen, muss man sich kurz noch einmal rückversichern, dass man nicht doch in einem Realfilm sitzt, so beeindruckend ist die Figur gestaltet. Dem gegenüber stehen knallbunte Elemente, die direkt aus einem Comic-Heft entsprungen zu sein scheinen. Mit der dort üblichen Aufteilung auf verschiedene Panels wird genauso trickreich wie mit Unschärfen jongliert. Comic-typische Textboxen leiten mit Einblendungen wie „Später am Abend...“ und dann „... sucht Miles nach Antworten“ auch mal von einer Szene zur nächsten über.
Es ist erstaunlich, wie kohärent der visuelle Mischmasch aus verschiedensten Stilen und Ideen zu jedem Zeitpunkt ist, wie hier modernste Animationstechniken und klassischer Zeichentrick sogar mit Szenen kombiniert werden, die auch einer durchgeknallten Drogenfantasie von Gaspar Noé („Climax“) entsprungen sein könnten. Damit schaffen die Macher überbordende Bilderwelten, in denen nahezu unendlich viel zu entdecken ist (so finden sich unzählige Werbebanner für fiktive Variationen bekannter Filme, gestaltet unter Beteiligung der Originalmacher)... und die trotzdem nur in einigen Momenten (vor allem im etwas überfrachteten Finale) erschlagend wirken. Das größte Kunststück ist aber: Inmitten all dieses visuellen Bombasts wird zu keinem Zeitpunkt vergessen, eine mitreißende Geschichte zu erzählen. Und so ist die Coming-of-Age-Story des kleinen Miles, der seine coolen Freunde in Brooklyn hinter sich lassen muss, weil er ein Stipendium für eine arschlahme und ihn völlig überfordernde Eliteschule gewonnen hat, das wahre Herz von „Spider-Man: A New Universe“. Wie unaufgeregt die Macher inmitten eines mit Gagsalven gespickten Action-Feuerwerks davon erzählen, wie Miles seinen Platz in dieser Welt zu finden versucht, ist vielleicht sogar die größte Meisterleistung an diesem herausragenden Marvel-Abenteuer.
Fazit: „Spider-Man: A New Universe“ ist ein bombastisches Vergnügen – teilweise völlig irrsinnig, immer super-rasant, optisch beeindruckend und vor allem mit einem starken emotionalen Kern. „Spider-Man“-Novizen werden aufgrund der zahllosen Anspielungen und Querverweise damit zwar nur halb so viel Spaß haben wie Kenner, aber selbst das ist immer noch eine ganze Menge!
P.S.: Wie bei Marvel-Filmen üblich gilt auch hier, dass man bis nach dem Abspann für ein weiteres Highlight sitzen bleiben sollte, selbst wenn dieses leider für fleißige Abspannleser mit etwas Kombinationsgabe schon einige Minuten zuvor gespoilert wird.