Behinderte und Sex: Es ist ein ebenso schwieriges wie heikles Thema, mit dem sich Stina Werenfels („Nachbeben“) in ihrem dritten Spielfilm „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ mit unverblümter Direktheit beschäftigt. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Lukas Bärfuss erzählt die Schweizer Regisseurin von der gerade 18 Jahre alt gewordenen Dora, die mit einem älteren Mann ihre Sexualität entdeckt und damit auch den Gefühlshaushalt ihrer Eltern durcheinanderwirbelt. In der Art, wie er auf provokante Weise an Schamgrenzen rüttelt, erinnert der Film an Tabubrecher wie „Feuchtgebiete“, ist in seiner oft experimentellen Bildgestaltung jedoch der inszenatorisch ungleich interessantere Film.
Dora (Victoria Schulz) feiert ihren 18. Geburtstag wie ein Kinderfest mit Torte, Luftballons und Kerzen auspusten. Dora ist nämlich geistig zurückgeblieben, kindlich, naiv, einfach anders. Doch nun hat Mutter Kristin (Jenny Schily) die Medikamente ihrer Tochter ohne Wissen des Vaters Felix (Urs Jucker) abgesetzt - mit ungeahnten Folgen: Mehr und mehr entdeckt Dora ihre Sexualität und findet in dem undurchsichtigen Peter (Lars Eidinger) einen Mann, der ihre unbeholfene Art einerseits ausnutzt, ihr andererseits aber auch ein freies Sexualleben ermöglicht, von dem ihre Eltern nur träumen können. Diese bemühen sich nämlich seit langem, noch ein Kind zu bekommen. Als Dora schließlich schwanger wird, weckt sie damit die Eifersucht ihrer Mutter…
Nachwuchsschauspielerin Victoria Schulz verschwindet ganz in ihrer Rolle, ohne Dora je auf ihre Behinderung zu reduzieren. Getrieben von einer geradezu kindlichen Neugierde und Lust an Entdeckungen, erforscht sie ungezügelt ihre Umwelt, andere Menschen und nicht zuletzt ihre eigene Sexualität. Während ihre Eltern sie am liebsten für immer in einen goldenen Käfig sperren würden, geht Dora ganz unvoreingenommen an die Dinge heran und überfällt Peter geradezu. Dass die Atmosphäre beim ersten Sex schnell kippt und die Grenzen zwischen gelebter Lust und Vergewaltigung zunehmend verwischen, führt dann zu einer der spannendsten Fragestellungen des Films: Kann eine geistig Behinderte wirklich selbstbestimmt über ihre sexuellen Wünsche entscheiden? Und wie sehr nutzt Peter die Situation aus? Wie weit dürfen die Eltern das Schicksal ihrer nun volljährigen Tochter kontrollieren? Antworten kann und will Werenfels auf diese Fragen nicht geben.
Inszenatorisch überzeugt der Film vor allem immer dann, wenn die Regisseurin mit Hilfe extremer Unschärfen und reduzierter Blickwinkel die Perspektive von Dora zu emulieren versucht. So wird auf geradezu impressionistische Weise die subjektive Wahrnehmung einer jungen Frau angedeutet, die zwar geistig behindert sein mag, aber vor allem einen ganz eigenen, ganz persönlichen Blick auf die Welt hat. Weniger gelungen ist hingegen das dauernde Spiel mit Symbolen: So schenkt Dora ihrem Peter etwa einen Apfel, der während des rohen Aktes über den Boden rollt und dabei überdeutlich biblische Assoziationen an die verbotene Frucht provoziert. Wenn dann später noch eine Schlange durchs Bild kriecht, während Kristin auf einer Party im Drogennebel deliriert, übertreibt es Werenfels endgültig mit der psychologischen Symbolik, zumal diese ins Nirgendwo führt. Am stärksten ist „Dora“ deshalb immer in jenen Momenten, in denen die Erzählung ganz nah bei den Figuren bleibt, wenn die Suche nach sexueller Selbstbestimmung mit dem schwierigen Prozess des Loslassens kontrastiert wird.
Fazit: Der manchmal etwas zu symbolhaft aufgeladene, aber insgesamt angenehm-unverblümte Film begeistert vor allem immer dann, wenn Regisseurin Stina Werenfels dem Spiel ihrer bemerkenswerten jungen Hauptdarstellerin Raum zur Entfaltung gibt.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2015. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 65. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.