„Gottes Werk und Teufels Beitrag” gehört zu jenen Filmen, bei denen ich zwischen großer Sympathie und emotionaler Verbundenheit einerseits und der Frage andererseits schwanke, ob der Regisseur nicht alles mögliche in den Film hineingepackt hat, ohne auch nur einer aufgeworfenen Frage wirklich intensiv nachgegangen zu sein. Der von Oliver Stapleton exzellent fotografierte Streifen, zu dem John Irving, basierend auf seinem eigenen Roman, das Drehbuch schrieb, stellt ein Waisenkind und dessen Beziehung zum Leiter des Waisenhauses in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Produktionsfirma wirbt mit dem Slogan: „Eine Geschichte darüber, wie weit wir reisen müssen, um den Platz zu finden, an den wir gehören.” Damit ist weniger eine Reise im Sinne einer Ortsveränderung gemeint als eine innere Reise durch die eigene Seele, die allerdings mit einer auch örtlichen Distanzierung von den eigenen Ursprüngen verbunden ist.
Homer Wells (Tobey Maguire) wächst in einem Waisenhaus in St. Clouds in Maine auf. Obwohl mehrere Paare den Jungen schon als Baby adoptieren wollten, kam Homer immer wieder zurück: die einen beklagten sich, der Junge würde keine Gefühle zeigen, andere schlugen ihn. So wird Homer zum Lieblingskind des Leiters des Waisenhauses Dr. Wilbur Larch (Michael Caine), der ihn wie einen eigenen Sohn aufzieht. Larch führt Homer Mitte der 40er Jahre in die Geheimnisse der ärztlichen Kunst ein; Homer assistiert ihm bei Operationen. Larch ist aber auch Vater für die anderen Kinder im Waisenhaus, obwohl er selbst immer sagt, er würde für alle sorgen, sei aber für keinen Vater. Homer arbeitet bald als „Arzt” so gut wie Larch selbst. Nur in einem Punkt sind beide geteilter Meinung. Larch befürwortet und praktiziert Abtreibungen, Homer ist absolut gegen Abtreibung.
Als ein junges Paar – der zum Kriegsdienst einberufene Lieutenant Wally Worthington (Paul Rudd) und seine Freundin Candy Kendall (Charlize Theron) – bei Larch erscheinen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, sieht Homer eine Chance, seinem bisherigen Leben eine andere Richtung zu geben. Bisher hatte er das Waisenhaus nie verlassen, auch, weil Larch immer davor gewarnt hatte, in „die Welt” zu gehen, da es dort viel schlimmer sei als in der behüteten Welt des Waisenhauses. Doch Homer verlässt St. Clouds mit Wally und Candy. Auf der Apfelplantage von Wallys Mutter Olive (Kate Nelligan), auf der auch Candy arbeitet, trifft Homer auf Arthur Rose (Delroy Lindo) und seine Tochter Rose Rose (Erykah Badu) sowie die anderen Erntearbeiter, u.a. Jack (Evan Parke) und Peaches (Heavy D). Als Wally in den Krieg gegen Japan eingezogen wird, wird aus der Freundschaft zwischen Homer und Candy Liebe.
Ein Ereignis überschattet das Leben auf der Plantage. Rose Rose ist schwanger und verzweifelt, denn der Vater ihres ungeborenen Kindes ist ihr eigener Vater.
Dr. Larch, der Homer sehr vermisst, hat mit einem anderen Problem zu kämpfen. Man will ihm einen potentiellen Nachfolger ins Haus setzen. Larch aber will, dass Homer sein Nachfolger wird. Und so fälscht er Papiere und fertigt Diplome an, um Homer als erfahrenen und geeigneten Arzt erscheinen zu lassen. Nur, wird Homer überhaupt irgendwann wiederkommen?
Eins hat mich an „The Cider House Rules” besonders fasziniert: Der Film wartet mit einer starken Charakterdarstellung auf. Ich mag Tobey Maguires „zurückhaltende”, vielleicht monoton erscheinende, aber trotzdem intensive und emotionale Darstellung des Homer Wells. Michael Caine ist in diesem Film in einer seiner besten Rollen zu sehen. Caine spielt überzeugend einen scheinbar weltfremden, doch tatsächlich um die Wirrnisse und Verhängnisse des Lebens wissenden Arzt, der in jeder Hinsicht seine schützende Hand über die ihm anvertrauten Waisenkinder hält, ohne sie wirklich zu bevormunden. Er meint, er sei kein wirklicher Vater, und ist es doch. Jeden Abend verabschiedet er die Kinder – nachdem er oder Homer ihnen noch etwas vorgelesen haben – mit dem Satz: „Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine, ihr Könige von New England.” Andererseits wird Caines Larch getrieben von der Angst des Verlustes der Kinder an „die Welt”. Er konstatiert bei Homer einen Herzfehler, um ihn vor der Einberufung zum Kriegsdienst zu bewahren. Als Homer St. Clouds verlässt, kommentiert Larch gegenüber Schwester Angela (Kathy Baker): „Ich glaube, wir haben Homer an die Welt verloren.”
Charlize Theron spielt einfühlsam eine junge Frau, die Homer nach der Einberufung Wallys sagt, sie könne nicht allein sein. Auch die Nebenrollen – Jane Alexander, Kathy Baker, Paul Rudd als sympathischer junger Mann, Delroy Lindo als Vorarbeiter und Vater, der sich des Inzests schuldig gemacht hat, und Erykah Badu als verzweifelte Tochter Rose Rose – sind gut besetzt.
Deutlich wird auch die Intention des Films, Homers Weg aus einer engen Beziehung zu Dr. Larch, der ihm allerdings nie Vorschriften macht, zu einem eigenen, selbstverantworteten Leben darzustellen – und dass er dazu St. Clouds verlassen muss und Distanz zu Larch notwendig ist. Auch die schwierige, aber intensive Beziehung zwischen Candy und Homer, die beide unter Schmerzen beenden, als Wally gelähmt aus dem Krieg zurückkehrt, reiht sich ein in den Weg, den Homer geht, ebenso wie die Konfrontation Homers mit der inzestuösen Beziehung Roses zu seiner Tochter, die Homer zu einer anderen Sichtweise in bezug auf Abtreibung bringt.
Doch trotz alledem scheint mir „The Cider House Rules” von angesprochenen, angedeuteten Themen überfrachtet: die Problematik im Waisenhaus, Inzest, Abtreibung, Kinder-Eltern-Verhältnis, die Dreiecksgeschichte Homer-Candy-Wally verbunden mit der Frage Freundschaft, die Problematik Erwachsenwerden, Verhältnis Homer-Dr. Larch – „The Cider House Rules” schneidet dies alles an, verknüpft dies in die Geschichte Homers, verfolgt einiges bis zu einem gewissen Punkt, ohne allerdings einer Frage wirklich bis „zum Ende” nachzugehen. Das setzt die zweifellos an etlichen Punkten nahe gehende Geschichte einer gewissen Beliebigkeit aus und nimmt den in Bezug genommenen Konflikten ein gutes Stück an Dramatik.
So wird der Konflikt zwischen Homer und Dr. Larch bezüglich der Abtreibungsfrage (Abtreibung war zu dieser Zeit illegal) nicht wirklich ausgetragen, was sich in einem gewissen Zerwürfnis äußern müsste. Der Streitpunkt erscheint aber als harmlos wirkender, mehr oder weniger kurzer Disput, der für die weitere Entwicklung kaum eine wirkliche, tiefgehende Bedeutung hat. Auch der Meinungswandel Homers in dieser Frage angesichts der inzestuös bedingten Schwangerschaft von Rose Rose offenbart eine durch das Drehbuch vorgegebene, fast schon rein funktionelle Mechanik im Kontext der Geschichte. Die Inzestproblematik plätschert eher vor sich hin, als dass es hier tatsächlich zu einer Auseinandersetzung kommen würde.
Homer kommt am Schluss „an”, er hat offenbar seine „Bestimmung” gefunden, weiß jetzt, was er mit seinem Leben anfangen will. In den Etappen allerdings, die ihn dorthin führen, „zerfransen” die Subplots, Konflikte usw. zu Andeutungen, Möglichkeiten und Chancen, denen nicht weiter nachgegangen wird. Schade.