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    Dämonen und Wunder - Dheepan
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Dämonen und Wunder - Dheepan
    Von Carsten Baumgardt

    An der Croisette ist Jacques Audiard („Ein Prophet“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“) ein alter Bekannter, mit seinem Flüchtlingsdrama „Dämonen und Wunder - Dheepan” wurde der französische Regisseur bereits zum vierten Mal in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes eingeladen. Doch trotzdem ist 2015 vieles ein bisschen anders: Audiard, der sich wie kaum ein zweiter Filmemacher auf kraftvoll-dynamisches Genrekino mit Anspruch versteht, nimmt sich selbst zurück und setzt auf ruhige Töne sowie auf eine eher nüchterne Schilderung der Situation im vom Bürgerkrieg gezeichneten Sri Lanka, die er wiederum mit einer kritischen Betrachtung der französischen Einwanderungs- und Sozialpolitik verknüpft. Aber auch wenn der Regisseur erst ist in den Schlussminuten den Fuß für ein wirkungsvoll energiegeladenes Finale von der Bremse nimmt, ist „Dheepan“ nicht nur wegen seines hochaktuellen Themas ein sehr sehenswerter Film und nicht unwürdiger Gewinner der Goldenen Palme.

    In Sri Lanka steht der Bürgerkrieg kurz vor dem Ende. Die Rebellen der Tamil Tigers, die jahrelang für einen unabhängigen Tamilenstaat gekämpft haben, sind besiegt. Einer von den unterlegenen Soldaten ist Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), der sich im Getümmel der Gefechte mit der jungen Frau Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und der neunjährigen Waisen Illayaal (Claudine Vinasithamby) zusammenschließt, um als „Familie“ bessere Chancen bei der Erlangung von Asyl im Ausland zu haben. Sie landen in Frankreich und werden am Stadtrand von Paris in einer Sozialbausiedlung untergebracht. Dheepan erhält Arbeit als Hausmeister für vier Häuserblocks, Yalini betreut den alleinstehenden, dementen Habib (Faouzi Bensaïdi) in einer der Wohnungen und Illayaal geht zur Schule. Doch die Gegend wird von Drogendealern kontrolliert und erweist sich als ähnlich gefährlich wie die ceylonesische Heimat der Neuankömmlinge.

    Wie geht man damit um, wenn man ungewollt die Heimat verlassen muss und irgendwo anders ganz ohne eigene Ressourcen ein neues Leben beginnen muss? Jacques Audiard nimmt in „Dheepan“ die Perspektive der tamilischen Flüchtlinge ein und erreicht damit zweierlei: Zum einen bringt er dem Publikum die existenziellen Nöte der Migranten wider Willen näher, zum anderen entlarvt er den Umgang des französischen Staats mit diesen Menschen, aber auch seine gesamte Sozialpolitik als unwürdig. Jeder aus dem Trio, das aus der Not heraus zur Gemeinschaft geworden ist, geht dabei unterschiedlich mit den Problemen der Eingewöhnung in der Fremde um. Dheepan will unter dem Radar bleiben, sich nicht angreifbar machen, er verhält sich fast schon unterwürfig gegenüber seinem Gastgeberland. Yalini ist Frankreich unheimlich und fremd, sie nimmt eine Abwehrhaltung ein und verhält sich destruktiv, während sich Illayaal zu Beginn einfach nur verlassen verkommt. Das Mädchen sucht Liebe und Geborgenheit, die es von seinen Ersatzeltern nicht bekommt, was vielleicht die größte Tragödie des Films ist. Denn letztlich ist es genauso verständlich, dass Yalini keinerlei Interesse an der Rolle der Adoptivmutter hat und so schnell wie möglich weiter Richtung England will, wo ihr Cousin auf sie wartet.

    Die Konflikte innerhalb der Kleingruppe sind ständig präsent, sie erinnern daran, was alle drei verloren haben und was eine Zufallsgemeinschaft kaum ersetzen kann, während die Situation in der Vorstadtsiedlung die Hoffnung auf ein friedliches und normales Leben in der Fremde schon schnell auf ein Minimum schrumpfen lassen. Der Ausnahmezustand in den Banlieues, deren zivilisatorische Strukturen sich in Auflösung befinden, wird hier mit einem verkappten Bürgerkrieg gleichgesetzt und die tamilischen Flüchtlinge geraten gleichsam vom Regen in die Traufe. Audiard zeigt die Banlieues als Achillesferse der französischen Gesellschaft, als Ghetto der Desillusionierten und der Chancenlosen. Hier sind die Asylanten nur weitere Problemfälle von einem monströsen Aktenberg, im Film bekommen sie ihre Individualität zurück. Diesen Effekt erhöht der Regisseur nicht nur mit seinem gleichsam dokumentarischen Inszenierungsansatz, sondern auch mit der Entscheidung, viele Rolle mit authentischen Laien zu besetzen. So war etwa Hauptdarsteller Jesuthasan Antonythasan selbst einst ein Kämpfer auf Seiten der Tamilen, ehe er nach Frankreich kam und spielt hier gleichsam sein eigenes Leben nach.

    Fazit: Jacques Audiard gelingt mit dem Flüchtlingsdrama „Dämonen und Wunder - Dheepan” ein für seine Verhältnisse ungewohnt ruhig erzählter, aber eindringlicher Kommentar zum Sozialstaat Frankreich und der Situation von Flüchtlingen und Einwanderern dort.

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