Nachdem Kenneth Lonergan für sein Regiedebüt „You Can Count On Me“ eine Oscarnominierung für das Beste Originaldrehbuch erhielt, entwickelte sich die Produktion seines Folgeprojekts „Margaret“ zu einer regelrechten Farce: Obwohl schon 2003 begonnen, war der Coming-of-Age-Film mit Anna Paquin nach einigen Drehpausen erst 2006 im Kasten. Die erste 180-Minuten-Fassung des Regisseurs war dem Studio allerdings deutlich zu lang, weshalb es den Film unter anderem von Martin Scorsese auf 150 Minuten herunterkürzen ließ. Das wiederum wollte Lonergan nicht hinnehmen und es kam zu einem langwierigen Rechtsstreit, der erst 2009 beigelegt wurde. Anschließend dauerte es noch bis 2011, ehe „Margaret“ in die US-Kinos kam, der Director`s Cut erschien noch ein Jahr später direkt auf DVD. Wegen all dieser Rückschläge hat den Film bis heute kaum jemand gesehen – und doch gilt „Margaret“ unter Kritikern als einer der besten Filme des angebrochenen Jahrtausends (auch wir haben ihm 4,5-Sterne gegeben). Trotz dieser entmutigenden Erfahrung kommt nun Lonergans dritte Regiearbeit in die Kinos – und mit der zeigt uns der Filmemacher, wozu er tatsächlich in der Lage ist, wenn er seine persönliche Vision ohne Widerstände umsetzen darf: „Manchester By The Sea“ ist ein präzise beobachtetes, unendlich weises, mit feinem Humor gespicktes Drama mit unfassbar guten Darbietungen von Casey Affleck, Michelle Williams und Newcomer Lucas Hedges.
Lee Chandler (für diese Rolle mit dem Oscar als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet: Casey Affleck) betreut als Hausmeister vier Apartmentblocks in Boston, als er erfährt, dass sein Bruder Joe (Kyle Chandler) in ihrem Heimatort Manchester-by-the-Sea an einem Herzinfarkt verstorben ist. Lee hat dem Küstenstädtchen schon vor Jahren nach einem schrecklichen Vorfall den Rücken gekehrt, aber nun muss er wohl oder übel zumindest für einige Zeit zurückkehren, um sich um Joes 16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) zu kümmern. Während sich Lee so gut es eben geht bemüht, alles richtig zu machen, wird er immer wieder an seine eigene Vergangenheit erinnert – gerade die in dem kleinen Ort auf Dauer unvermeidlichen Wiedersehen mit seiner Ex-Frau Randi (ist nur in einer Handvoll Szenen dabei, aber in diesen absolut überragend: Michelle Williams) nehmen ihn jedes Mal ziemlich mit…
„Manchester By The Sea“ galt neben „La La Land“ und „Moonlight“ als Topfavorit auf den Oscar als Bester Film – und das, obwohl er eigentlich gar nicht in das Raster der Dramen passt, die üblicherweise bei den Academy Awards ausgezeichnet werden. Lonergan spart die epischen emotionalen Ausbrüche, die bei der Verleihung oft in den kurzen Clips der nominierten Filme zu sehen sind, in seiner elliptischen Erzählung nämlich meist aus und konzentriert sich stattdessen auf die unscheinbareren kleinen Momente, die dafür viel mehr über seine Figuren offenbaren und den Zuschauer mindestens genauso tief berühren. So erfahren wir von dem lauten Geschrei und den harschen Anschuldigungen, die das Ende der Ehe von Lee und Randi dominiert haben, nur ganz nebenbei. Lonergan zeigt uns vielmehr, wie sie sich nach Jahren wiedersehen – eine unendlich schmerzliche und traurige Begegnung zwischen zwei Menschen, die immer noch tiefe Zärtlichkeit und Liebe füreinander empfinden, was angesichts der traumatischen Geschehnisse der Vergangenheit aber nicht ausreicht, um sich wieder in die Augen blicken zu können.
Kenneth Lonergan erzählt in „Manchester By The Sea“ eine im Kern sehr simple Geschichte – aber was den Film so besonders macht, sind eben die etlichen feinen Beobachtungen abseits des dramaturgischen Trampelpfades. Für Lonergan ist keine Figur und kein Ereignis einfach nur ein Mittel zum Zweck – stattdessen füllt er alles bis zum Anschlag mit echtem Leben auf: In einem schlechten Film besäße etwa die Figur des jugendlichen Sohnes des Verstorbenen nur eine rein dramaturgische Funktion. In einem guten Film hätte sie zumindest einige Ecken und Kanten. In „Manchester By The Sea“ aber ist Patrick eine absolut faszinierende, häufig widersprüchliche Person aus Fleisch und Blut – und mit zwei Freundinnen, die nichts voneinander wissen dürfen. Selbst bei Nebenfiguren wie Joes Geschäftspartner George (C.J. Wilson) oder der Mutter einer von Patricks Freundinnen fühlt es sich so an, als würden hinter ihren kurzen Auftritten noch ganze erzählenswerte Universen schlummern. Und trotz aller Tragik ist der Film an vielen Stellen auch noch unerwartet lustig (dank eines mitunter ganz schön trockenen Humors).
„Manchester By The Sea“ ist eines dieser viel zu selten vorkommenden Dramen, in denen es nur Sympathieträger gibt – alle gehen liebevoll miteinander um, geben ihr Möglichstes und wollen nur das Beste füreinander. Trotzdem sind sie unfähig, all die großen Steine, die ihnen das Leben in den Weg gelegt hat, zur Seite zu räumen. Das ist reine Tragik – und die ist erzählerisch bei dieser Geschichte viel wirkungsvoller als es das Auftreten eines ausgewiesenen Bösewichts je sein könnte. Deshalb ist es für das Gelingen des Films auch so wichtig, dass ausgerechnet Casey Affleck (und nicht wie ursprünglich geplant Matt Damon) die Hauptrolle spielt: Selbst in einem Hollywood-Heldenepos wie „The Finest Hours“ ist es dem jüngeren Affleck-Bruder schon gelungen, seine Figur zutiefst menschlich und bodenständig zu gestalten. Und in einem sehr viel delikater erzählten Film wie „Manchester By The Sea“ kann er nun mit einer berauschend-grandiosen, natürlich-spontanen und schlicht-wahrhaftigen Performance so richtig glänzen: Der Oscar als Bester Hauptdarsteller ist der absolut gerechte Lohn dafür.
Fazit: Ein ganz großes Kinoglück.