Der britische Regisseur James Marsh hat sich als gewissenhafter und instinktsicherer Chronist einen Namen gemacht und 2009 mit „Man On Wire“ den Oscar für den Besten Dokumentarfilm gewonnen. Sein Fokus liegt auf faszinierenden realen Geschichten, die er präzise, handwerklich versiert und mit Emotionen unterfüttert aufbereitet - mal als Doku und zuletzt verstärkt als Spielfilm. Nach der Schimpansen-Doku „Project Nim“ (2011), dem IRA-Drama „Shadow Dancer“ (2012) und dem Stephen-Hawking-Biopic „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ (2014), das Eddie Redmayne einen Oscar einbrachte, lässt Marsh nun das perfekt in dieses Schema passende Drama „Vor uns das Meer“ folgen. Er erzählt die wahre Geschichte des Hobbyseglers Donald Crowhurst, der 1968 kühn auszog, um bei einer Solo-Regatta um die Welt Ruhm, Ehre und ein stattliches Preisgeld einzusacken, obwohl er über keinerlei Hochseeerfahrung verfügte. Das klingt auf den ersten Blick nach einem klassischen Heldenepos, doch Marsh überrascht mit einer dramatisch-abgründigen Geschichte, die Oscarpreisträger Colin Firth in absoluter Bestform zeigt.
März 1968: Der Hobbysegler und Erfinder Donald Crowhurst (Colin Firth) lebt mit seiner Frau Clare (Rachel Weisz) und seinen Kindern James (Kit Connor) und Rachel (Eleanor Stagg) ein recht komfortables Leben im englischen Küstenort Teignmouth. Doch dann gerät Donalds Firma, die gerade einen neuartigen GPS-Navigator entwickelt hat, finanziell ins Straucheln und er sucht einen Ausweg aus der sich anbahnenden Misere. Als die London Sunday Times inspiriert durch die erfolgreiche Einhand-Weltumseglung von Sir Francis Chichester (Simon McBurney) eine Regatta veranstaltet, bei der die Solo-Teilnehmer die Welt ohne Stopp umrunden sollen, wittert Crowhurst seine Chance: Obwohl er selbst keinerlei Erfahrung als Hochseesegler hat, will er bei dem Rennen starten, um das Preisgeld von 5.000 britischen Pfund zu kassieren. Der Erfinder findet in dem Unternehmer Stanley Best (Ken Stott) sogar einen Sponsor, mit dessen Geld er einen neuartigen Trimaran bauen lässt, während der Times-Redakteur Rodney Hallworth (David Thewlis) für die Publicity sorgt. Crowhurst verpfändet sein Haus und seine Firma als Sicherheit, aber als er am 31. Oktober 1968 aufbrechen muss, ist sein Boot noch nicht ganz fertig. Die daraus resultierenden Probleme will der Amateur auf See lösen.
„Vor uns das Meer“ (Originaltitel: „The Mercy“) beruht zwar auf einer wahren, aber wenig bekannten Geschichte, und das Filmerlebnis profitiert davon, wenn man vorher nicht allzu viel über den Protagonisten weiß. Denn Regisseur James Marsh unterläuft in seinem Drama elegant eine ganze Menge Erwartungen. Souverän führt der Filmemacher Crowhurst als biederen, aber sehr integren Family Hero ein, der über sich hinauswachsen will, um das Leben seiner Lieben wieder ins Lot zu bringen – obwohl sie noch gar nicht so recht wissen, dass es aus den Fugen geraten ist, weil Crowhurst ihnen verheimlicht, wie schlecht es wirklich um seine Geschäfte steht. Schon in dieser Phase, als Marsh seine Hauptfigur als strahlenden Helden etabliert, gibt es kleine Brüche in der Persönlichkeit, die einen ins Grübeln bringen. Man weiß nicht, worauf Marsh hinauswill und diese Unberechenbarkeit ist spannend. Da erweisen sich auch Eric Gautiers schwelgerische Bilder in ihrem farbenfrohen Nostalgielook als trügerisch.
Edmund Hillary, der erste Mensch auf dem Gipfel des Mount Everest, sagte einmal: „Menschen entscheiden sich nicht, außergewöhnlich zu werden. Sie entscheiden sich, außergewöhnliche Dinge zu erreichen“. Diese Äußerung zitiert Marsh in „Vor uns das Meer“ und gibt Crowhursts Marschroute vor. Denn dieser mehrfache Familienvater, der sich in die Herausforderung stürzt, besitzt keine überragenden Fähigkeiten, die ihn dazu qualifizieren, die Welt als Einhandsegler zu umrunden. Aber er hat große Träume, und so ist „Vor uns das Meer“ auch ein Film über hohe Ambitionen, über Mut und Abenteuerlust – und die Kehrseite dieser Attribute.
Wenn Crowhurst nach zahlreichen Problemen in allerletzter Minute mit dem Mute der Verzweiflung in See sticht, hat sich der Wind der Erzählung längst gedreht, weil Marsh in immer kürzeren Abständen Zweifel an der Eignung des Hobbyseglers streut. Und so wandelt sich „Vor uns das Meer“ zu einem Existenzkampf in rauer See, den der Regisseur geschickt von zwei Seiten aus betrachtet. Der bessere Teil der Handlung spielt bei Crowhurst auf dem Meer, wo der Protagonist sich mit seinem nicht komplett seetüchtigen Boot herumschlägt und nebenbei versucht, sich unter schwierigsten Praxis-Bedingungen das Einmaleins des Hochseesegelns anzueignen. Parallel wird erzählt, wie seine Familie an Land sich Sorgen macht, wie Sponsor Stanley Best weiter Druck aufbaut und wie der Zeitungsredakteur Rodney Hallworth Berichte von Crowhurst fordert, damit er seinen Lesern Storys verkaufen kann. Der Abenteurer gerät auf mehreren Ebenen immer stärker in die Defensive und seine waghalsige Mission droht zu scheitern.
Dabei wird aus „Vor uns der Meer“ vor allem auf See ein überraschend abgründiger Film. Oscarpreisträger Colin Firth (für „The King’s Speech“) zeigt uns verstärkt die dunkleren Seiten des spleenigen Helden und tollkühnen Tausendsassas Crowhurst und lotet das ganze Spektrum zwischen Heroismus und Verzweiflung, Wagemut und Selbstüberschätzung, kalkuliertem Risiko und unberechenbarem Himmelfahrtskommando aus. Es entsteht ein ungeschönt-doppelbödiges, aber immer zutiefst menschliches Porträt, sodass man auch mit dem nicht mehr so strahlenden Helden mitfiebern kann. Zugleich wirkt es allerdings ein wenig so, als würde sich Regisseur Marsh bei einigen dramatischen Zuspitzungen zurückhalten, um seinem Publikum nicht die volle Dosis Bitterkeit zuzumuten, wodurch das Ungewöhnliche und Raue des Stoffes letztlich doch wieder weitgehend in gewohnte Bahnen gelenkt wird.
Fazit: James Marsh erzählt in seinem von Colin Firth herausragend gespielten doppelbödigen Biopic-Drama „Vor uns das Meer“ eine düstere und spannende Geschichte von großen Träumen und vom noch größeren Scheitern.