Verfluchte Langeweile
Von Christoph PetersenIn den USA werden bereits seit Anfang der Achtzigerjahre Zuschauer am Eröffnungswochenende eines Films beim Verlassen des Kinosaals nach ihrer Meinung gefragt. Aus ihren Antworten wird dann der sogenannte Cinemascore ermittelt, der nach dem US-Schulnotensystem von A+ bis F reicht. In der inzwischen 40-jährigen Geschichte des Marktforschungsinstruments hatten bisher nur 19 Filme die schlechteste Bewertung erhalten – bis „The Grudge“ nun die 20 vollgemacht hat. Dabei war es genau dieses gefürchtete F-Rating, das mir persönlich kurz vor dem Kinobesuch noch einmal Hoffnung gemacht hat ...
... schließlich erhalten neben offensichtlichen Rohrkrepierern wie „Lost Souls“ oder „Fear Dot Com“ oftmals auch solche Filme einen besonders miesen Cinemascore, die das Publikum herausfordern und dessen Erwartungen konsequent unterlaufen, darunter etwa Darren Aronofskys „mother!“ oder „Killing Them Softly“ mit Brad Pitt. Und es wäre ja auch tatsächlich denkbar gewesen, dass „The Grudge“ in diese Kategorie fällt, immerhin hat Regisseur Nicolas Pesce mit seinem Debüt „The Eyes Of My Mother“ einen der abgefucktesten und verstörendsten Filme der vergangenen Dekade vorgelegt. Aber Pustekuchen: „The Grudge“ ist weder sonderlich herausfordernd noch aufregend anders, sondern – trotz einiger ambitionierter Ansätze – vor allem enttäuschend öde.
Auf die ikonische Hand-aus-dem-Hinterkopf-Szene wird natürlich auch in der Neuauflage nicht verzichtet.
Wo das erste US-Remake von „Ju-on: The Grudge“, also „Der Fluch“ mit Sarah Michelle Gellar aus dem Jahr 2004, mit der Sozialarbeiterin Yoko begann, die ein verfluchtes Haus betritt, setzt „The Grudge“ nun wenige Momente früher mit Yokos Vorgängerin Fiona (Tara Westwood) ein, die den Pflegejob bei den Williams hinschmeißt und nach einer kurzen Begegnung mit den aus der Reihe hinlänglich bekannten Kult-Geistern Kayako und Toshio überstürzt zu ihrer Familie in Pennsylvania zurückkehrt.
Aber offenbar hat sie den Fluch dabei mit über den Pazifik geschleppt. Denn nach einem grausamen Verbrechen manifestiert sich nun auch in der verschlafenen Kleinstadt Cross River ein Grudge, also ein Fluch, der sich am Ort des gewaltsamen Todes eines Menschen einnistet und jeden mit seiner Wut verschlingt, der sich ihm nähert. Und das bekommen nun gleich eine ganze Reihe von Leuten, die über eine Zeitspanne von mehreren Jahren hinweg das Haus bewohnen oder auch nur betreten, schmerzhaft am eigenen Leib zu spüren...
Nicht nur Andrea Riseborough sorgt dafür, dass die 2020er-Version der bisher schauspielerisch stärkste "Grudge"-Film ist.
„Ju-on: The Grudge“ von 2002, also der Teil der Reihe, der bei den meisten Fans am höchsten in der Gunst steht, besteht aus vielen einzelnen kurzen Episoden, in denen über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren immer wieder verschiedene Menschen das verfluchte Haus betreten. Regisseur und „The Grudge“-Mastermind Takashi Shimizu präsentiert eine im Kern sehr simple Erzählung mit überwiegend handgemachten Schockmomenten, bei der man sich als Zuschauer nur ein wenig anstrengen muss, um die nicht chronologisch angeordneten Schauerschnipsel in seinem Kopf selbst in der passenden Reihenfolge zusammenzubasteln.
Nicolas Pesce („Piercing“) macht in seiner Neuauflage nun vor allem vier Dinge maßgeblich anders – und obwohl „The Grudge“ besser als alle anderen Teile der Reihe aussieht und auch stärker gespielt ist, erweisen sich alle vier Entscheidungen letztendlich doch als ein Schritt in die falsche Richtung:
Andrea Riseborough („Birdman“, „Mandy“), Demián Bichir (oscarnominiert für „A Better Life“, „The Hateful 8“) und Jacki Weaver (zweifach oscarnominiert für „Silver Linings“ und „Königreich des Verbrechens“) – nichts gegen den Badass-Charme von Sarah Michelle Gellar, aber Pesce hat sich für seine Neu-Adaption noch mal ein ganz anderes Kaliber von Schauspielern zusammengesammelt. Und den muss man dann natürlich auch was zu tun geben ...
... weshalb die Polizistin Muldoon (Riseborough) nun nach dem Krebstod ihres Mannes als alleinerziehende Mutter klarkommen muss, während der Immobilienmakler Peter (John Cho) und seine hochschwangere Frau Nina (Betty Gilpin) mit einer niederschlagenden ärztlichen Diagnose in Bezug auf ihr ungeborenes Baby konfrontiert werden und Lorna (Weaver) als professionelle Sterbehelferin über das Für und Wider von assentiertem Selbstmord sinniert. Das ist auch alles schön und gut, aber „The Grudge“ bleibt trotz allem ein episodenhafter Horrorfilm, in dem jeder einzelne Handlungsstrang dann schon fast zwangsläufig ziemlich nah an der Oberfläche hängenbleiben muss – und so bremsen all diese im Kern begrüßenswerten Ansätze den Film nur aus, ohne ihm im Gegenzug tatsächlich etwas Substantielles hinzuzufügen.
Das japanische Vorbild funktioniert fast wie eine Horror-Anthologie, also wie eine Aneinanderreihung von lose zusammenhängenden Kurzfilmen, bei der jedes der zehn bis 15 Minuten langen, nach den jeweiligen Protagonisten benannten Kapitel mit einem Schockeffekt endet. Nicolas Pesce hat die Episoden in seinem Skript nun allerdings parallel angeordnet und springt immer wieder zwischen ihnen hin und her – und dabei gibt es ein großes Problem:
Alle Einzelgeschichten folgen nämlich mehr oder weniger derselben Dramaturgie – und so bekommen wir erst vier Anfänge, dann vier Mittelteile und am Ende vier Finale jeweils am Stück serviert. Das führt allerdings (logischerweise) dazu, dass der Film zu Beginn nur sehr langsam in Fahrt kommt, dann in der Mitte ewig durchhängt und am Ende all sein aufgespartes Schockpotenzial auf einmal verpulvert, was einen dann aber (trotz einer gelungenen Finger-Abhack-Szene) auch nicht mehr aus der inzwischen eingetretenen Lethargie reißt.
Die Überschrift sagt ja eigentlich schon fast alles. Aber die Jump Scares in „The Grudge“ sind wirklich ganz besonders schläfrig in Szene gesetzt (selbst wenn man ein Treppenhaus hinabstürzende Körper mit Hilfe von CGI besonders garstig auf dem Boden „zerplatzen“ lassen kann). Sogar die direkt aus den Vorbildern übernommenen Momente wie die inzwischen längst ikonische Hand, die beim Duschen plötzlich aus dem Hinterkopf herauswächst, werden hier ohne jeden schockierenden Effekt abgespult. Wobei es zumindest ein ganz netter augenzwinkernder Genre-Kommentar ist, dass diesmal nicht eine Frau, sondern mit John Cho zur Abwechslung mal ein Typ in der obligatorischen Horrorfilm-Duschszene unter die Brause geschickt wird.
2016 ist Kayako bereits in einem Crossover mit der „The Ring“-Reihe gegen das Brunnenmädchen Sadako angetreten – und spätestens damit sind Mutter Kayako und Sohn Toshio nach mehr als zehn Filmen als weißgeschminkte Rachegeister auch irgendwie durch. Da ergibt es schon Sinn, dass Pesce sie nur in der ersten Szene einmal kurz auftreten lässt (und Toshio hat dabei als atmender Müllsack auch direkt den besten Geisterauftritt des gesamten Films).
Nur sind ihre Ersatzgeister in den USA leider vollkommen beliebig und austauschbar – Pesce verzichtet nicht nur auf die weiße Farbe, sondern auf alles, was seine Racheentitäten in irgendeiner Form von den Tausenden Fluch-Filmen zuvor abheben würden. Zusammen mit den müde vorgetragenen Jump Scares muss man „The Grudge“ deshalb leider attestieren: Grusel ist hier Fehlanzeige – und erinnern wird man sich an die Geistererscheinungen nicht mal bis zum Abspann, geschweige denn darüber hinaus.
Die amerikanische "Toshio" kann ihrem japanischen Vorbild einfach nicht das Badewasser reichen.
Eine verpasste Chance ist es zudem, die fernöstliche Mythologie hinter der Reihe nicht bzw. kaum mit dem christlichen Glauben kollidieren zu lassen. Schließlich hat Cop Goodman nicht nur Madonnenbildchen im Handschuhfach, er schaut sich abends nach Feierabend auch noch Bibelschinken im Fernsehen an. Zudem werden mit Abtreibungen bei der Aussicht auf eine schwere Beeinträchtigung des Kindes sowie betreuter Sterbehilfe auch noch zwei ganz heiße Eisen der aktuellen religionsethischen Debatte verhandelt.
Aber das passiert auch nur auf dem Papier, am Ende wird dann doch keines der Themen weiter ausgeführt oder spielt auch nur im Umgang der Figuren mit dem Fluch eine nachvollziehbare Rolle. Stattdessen ist der Charakter von Demián Bichir eigentlich sogar komplett überflüssig und wurde wohl vor allem als Marketing-Tool in den Film eingebaut, weil das (streng-)gläubige katholische Publikum gerade bei okkult angehauchten Horrorfilmen traditionell einen ganz beträchtlichen Teil der Zuschauerschaft ausmacht.
Fazit: Nicolas Pesce unternimmt den ehrenhaften Versuch, der bisher vornehmlich für ihre simplen - und im besten Fall gerade deshalb effektiven - Schockeffekte bekannten „The Grudge“-Reihe mehr Charaktertiefe zu verleihen. Statt spannendere Figuren ist bei dem Experiment aber vor allem mehr Langeweile herausgekommen.