In der Wiederaufbereitungsanlage Hollywood rauchen die Schornsteine ständig, unermüdlich werden Remakes, Reboots und Fortsetzungen gedreht. Normalerweise geht es den Produzenten dabei darum, Erfolgsformeln zu reproduzieren und ganz bewusst an Bekanntes anzuknüpfen. Im Falle von Robert Zemeckis‘ „The Walk“ liegt die Sache allerdings etwas anders. Die Tragikomödie ist zwar als zweite Verfilmung des autobiografischen Buches „To Reach The Clouds“ von Hochseilartist Philippe Petit auch eine Art Remake, aber es wirkt so, als wollte der „Zurück in die Zukunft“-Regisseur bewusst alles anders machen als sein Vorgänger James Marsh in dem oscargekrönten Dokumentarfilm „Man On Wire“. Der hatte Petits berühmten Hochseil-Balanceakt zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers und seine Vorbereitung als ultraspannenden Heist-Film inszeniert, der einem beim Zusehen den Atem stocken ließ, während Zemeckis sich nun nicht nur für einen Spielfilm mit Starbesetzung entscheidet, sondern auch einen komplett anderen erzählerischen Ansatz wählt. Er macht aus „The Walk“ über weite Strecken ein Schelmenstück, das sich zu Beginn an der Grenze zur Albernheit bewegt. Die Thriller-Spannung bleibt zumindest bis zum schwindelerregenden finalen Akt auf der Strecke – der ist mit seinen atemberaubenden 3D-Bildern allerdings überwältigend.
Der junge Seilartist, Pantomime und Straßenjongleur Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt) ist ein begnadeter Träumer, der sich nicht von seinen großen Zielen abbringen lässt. Nach ersten Erfolgen in Paris plant der Akrobat den Mega-Coup: Er möchte kurz vor der Eröffnung des World Trade Centers 1974 in New York zwischen den beiden Zwillingstürmen auf einem Drahtseil hin- und herlaufen. Schon mehrere Jahre im Voraus beginnt Petit gemeinsam mit seiner Freundin Annie Allix (Charlotte Le Bon) sowie seinen Kumpels Jean-François (César Domboy), Jean-Louis (Benedict Samuel) und Albert (Ben Schwarz) mit den Vorbereitungen für das ungenehmigte und damit illegale Vorhaben. Auch sein Mentor Papa Rudy (Ben Kingsley) gibt ihm immer wieder hilfreiche Ratschläge, während er in New York auf die Hilfe des Fotografen Jim Moore (James Badge Dale) und später auch auf die Unterstützung des World-Trade-Center-Mitarbeiters Barry Greenhouse (Steve Valentine) zählen kann. Am 7. August 1974 ist es schließlich soweit…
An jenem Morgen hält Philippe Petit New York mit dem wohl bizarrsten Streich in der Geschichte der Stadt in Atem: Der Franzose überquert die 61 Meter große Lücke zwischen den beiden Twin Towers auf einem durch sein Team angebrachtes Drahtseil, mit einer Balancierstange als einziger Hilfe – und ohne lebensrettende Sicherung. Nachdem die Polizei angerückt ist, harrt Petit geschlagene 45 Minuten in luftiger Höhe aus, läuft immer wieder hin und her, legt sich auf das Seil und hält die Ordnungshüter mit diversen Faxen zum Narren. Dieser an Tollkühnheit nicht zu überbietende Stunt, auf den von Anfang an alles hinausläuft, ist auch der alles überstrahlende Höhepunkt von Robert Zemeckis‘ Film, der in dieser letzten halben Stunde endlich seine volle Wirkung entfaltet. Erst mit der kunstvoll computerunterstützten Nachinszenierung des akrobatischen Husarenstreichs zwischen den Hochhaustürmen findet der Regisseur zur inszenatorischen Hochform und übertrifft selbst den spektakulären Flugzeugabsturz aus seinem vorigen Film „Flight“, doch bis dahin verzettelt er sich auf der Suche nach einem eigenen Erzählton für die bekannte Geschichte ein ums andere Mal.
Statt die akribische Vorbereitung auf den geheimen Coup im Stile von verschwörerischen Einbruchsthrillern auf Hochspannung zu trimmen, setzt Oscarpreisträger Zemeckis (für „Forrest Gump“) zunächst auf eine leichte Note: Joseph Gordon-Levitt („The Dark Knight Rises“, „Inception“) turnt im Kostüm auf der Freiheitsstatue herum und erzählt von dort aus in Rückblenden die unglaubliche Geschichte, die dabei einen märchenhaften Unterton im Stil von „Die fabelhafte Welt der Amelie“ bekommt. Dieser Ansatz wirkt sich auch auf die Figurenzeichnung aus: Der Protagonist Philippe Petit wird hier zu einem charmanten und zugleich besessenen Träumer, der gegen alle Widerstände das ganz große Ding durchziehen will – von dem arroganten Unsympathen, der in „Man On Wire“ als er selbst zu sehen war, ist Joseph Gordon-Levitts Interpretation weit entfernt. Der sorgt vielmehr in bester Hollywoodstar-Manier dafür, dass man diesen Mann mag – obwohl sein unecht wirkender französischer Akzent in der Originalfassung recht anstrengend ist. Charlotte Le Bon („Yves Saint Laurent“) steht indes als wichtigste Komplizin und Gefährtin treu an seiner Seite (und klar in seinem Schatten), während Petits Bande um James Badge Dales („24“) Jim Moore vor allem für den Humor zuständig ist - immer wieder steuern die Jungs launige Oneliner bei.
Die einzige Figur, die sich in der ersten Filmhälfte mit ihrem träumerischen Erzählton wirklich echt anfühlt, ist die knarzige Zirkus-und Artistenlegende Papa Rudy. Den manchmal verschlagenen, aber auch väterlichen und warmherzigen Lehrmeister macht Ben Kingsley („Schindlers Liste“) in begrenzter Leinwandzeit zu einem unvergleichlichen Original, doch selbst er kann nur punktuell darüber hinwegtäuschen, dass der märchenhafte, gelegentlich fast betuliche Erzählduktus nicht recht zu dem Stoff passt. Wenn sich das Geschehen in New York allmählich zuspitzt, besinnt sich Robert Zemeckis dann immerhin zunehmend auf seine visuellen Stärken und zu dem makellos-authentischen 70er-Jahre-Setting kommt die ebenso symbolträchtige wie beeindruckend realisierte Wiederauferstehung der zerstörten Zwillingstürme. Nun sorgt die technische Perfektion zunehmend auch für emotionale Reize und die Wahl des 3D-IMAX-Formats macht sich bezahlt: Als Zuschauer kann man die irre Höhe förmlich spüren und entsprechend leidet das Publikum im Finale mit – obwohl der Ausgang der Aktion sattsam bekannt ist. Und nebenbei erfährt man alles über Cavaletti und ihre ganz besondere Bedeutung...
Fazit: Robert Zemeckis läuft mit seiner 3D-Tragikomödie „The Walk“ nach überaus holprigem Beginn erst am Ende zu großer Form auf.